'The Beach' und die Sehnsucht nach dem Paradies

von Michael Wermke

 

Paradiesvorstellung gehört zum ständigen Repertoire religiöser Motive im Main-stream Film. In Notting Hill (Regie Roger Michell, USA 1999) verknüpft sich der Paradiesgarten mit der Hoffnung auf Liebe und Treue. Das Motiv klingt in dem Film erstmalig an, als der etwas verschrobene Buchhändler William (Hugh Grant) und der Kinostar Anna Scott (Julia Roberts) nächstens gemeinsam die hohe Hecke überwinden und in einen vergessenen Park inmitten der Londoner Großstadt eindringen. Hier gestehen sie sich ihre Liebe und später, zum Schluss des turbulenten Films, ruhen die Beiden im hellen Sonnenschein jung vereint auf der Parkbank und erfreuen sich an der keimenden Frucht ihrer Liebe. Das Paradies ist, so die Botschaft des Films, unter uns, wie müssen es nur finden wollen.

The conquest of paradise, die Eroberung des Paradieses ist ein alter Menschheitstraum. Das Paradies wird immer wieder als eine ideale Gesellschaft gedacht, die im Unterschied zu den Erzählungen der Märchen oder des Mythos rational vorstellbar und damit auch möglich ist – ob auf den Inseln Atlantis und Utopia oder eben schlicht im grünen, sonnendurchfluteten Park von Notting Hill.

Von der Rückeroberung des Paradieses erzählt in teils wunderschönen, teils grausigen Bildern der Film 'The Beach' (Regie Danny Boyle, USA 2000). Im Mittelpunkt steht der Rucksacktourist Richard (Leonardo di Caprio), ein wonniger Wohlstandsjunge auf der Suche nach dem ultimativen Abenteuer, nach den letzten Grenzen. Seine Reise führt in ein völlig heruntergekommenes Hotel in Hongkong. Dort erzählt ihm ein suizidbereiter Nachbar von der Existenz einer vergessenen Insel mit einem wunderschönen Strand und hinterlässt ihm die Karte dieses Paradieses. Mit Etienne und dessen Freund Francoise macht Richard sich auf den mühsamen Weg zum Strand entlang der Versuchungen der Touristenhochburgen. Schließlich stehen alle drei vor der überwältigenden Silhouette der Insel und wägen das Risiko ab, dort hinüber zu schwimmen. "Wenn wir nicht hinüber schwimmen, werden wir nicht wissen, wie weit es ist", erklärt Richard und springt als Erster in die Fluten. Mit letzter Kraft erreichen sie die Insel und glauben sich angesichts eines reifen Cannabisfeldes am Ziel ihrer Träume. Aber plötzlich taucht der Haschischanbauer mit seinen schießwütigen Kumpanen auf und nur mit großer Not können sie sich retten.

Auf ihrer Flucht überstehen Richard und seine Freunde die letzte Initiationsprüfung: ein waghalsiger Sprung in die Tiefen eines Wasserfalls. Dort werden sie von Keaty bereits erwartet. Die jugendlich-fröhliche Strandkommune nimmt die Neuankömmlinge auf. Sal (Tilda Swinton) ist die umstrittene Anführerin. Schnell finden sich die drei in die archaisch wirkenden Lebensformen und Rituale der Gemeinschaft ein. Gemeinsam wird gefischt, gebaut und geerntet. Allabendlich wird zur Party am Lagerfeuer geladen, der Joint kreist durch die Gemeinde. In der Freizeit spielen sie Beach-Volleyball oder lassen sich von Keaty in die Regeln des Cricketspiels einführen. Der Cherub ist zum Animateur mutiert.

Es sind nicht die blutigen Bilder, die den Zuschauer schockieren, sondern die enttäuschende Beobachtung, dass man sogar im Paradies auf Erden nur sich selbst und seinem mitgeschleppten Zivilisationsgepäck begegnet. Nicht eine schöne neue Welt des Friedens und der Anmut wird gezeigt, sondern lediglich Blumenkinder in Shorts und Gore-Tex-Sandalen, die nur eine Variante der rücksichtslosen, saufenden und amüsierwütigen Touristen in ihren Hochburgen abgeben.

Der Film bietet keine enttäuschende Vorstellung, wie manche Filmkritiker behaupten, sondern er enttäuscht die Vorstellungen der Kinobesucher. Er beraubt sie ihrer Illusion, ein Paradies auf Erden würde sie gleichsam in neue Menschen verwandeln und sie ein Leben in Harmonie und Glückseligkeit führen lassen können. Insofern ist di Caprio auch eine Idealbesetzung, entspricht doch sein eher weichlicher Typ viel mehr uns als einem Adam Dürer'scher Qualität.

Die zerstörerische Gewalt, die schließlich die Kommune sprengt, kommt dann auch nicht von außen, von den gefährlich angreifenden Haifischen oder den brutalen Rauchgiftanbauern. Diese Gewalt kommt von innen. Die Freundschaft Richards mit Etienne bekommt Risse und zerbricht schließlich, als Richard sich in Francoise verliebt. Schlimmer noch: Richard kann das Geheimnis um die Insel nicht für sich behalten. Damit geraten der illegale Rauschgiftanbau und die Kommune in Gefahr. Richard wird erpressbar und schließlich als Verräter aus der Kommune verstoßen.

Mit Ekel durchschaut nun Richard den Albtraum der Insel und lebt als Outsider seine Allmachtsphantasien aus. Wie der Super-Mario aus seinem Gameboy glaubt er ungehemmt durch den Urwald rasen und alles im Griff haben zu können. Und schließlich eskaliert der Konflikt. Mit Gewalt dringt der Haschischanbauer mit seinen Leuten in die Kommune ein und stellt Sal vor die Entscheidung, entweder Richard sofort zu erschießen oder die Kommune zu verlassen. Das Böse entlarvt die brutalen Gutmenschen: Um ihren Traum vom Paradies zu retten, drückt Sal ab, aber der Bauer hatte die Waffe längst entladen. Herrschsucht und kalter Egoismus habe gesiegt und die Menschen müssen das Paradies einmal mehr verlassen. Der Traum ist aus.

Aber trotz allem, die Sehnsucht nach dem Paradies bleibt. Am Ende des Films wird Richard in einem Internetcafe gezeigt. Eine E-Mail von Francoise wartet auf ihn: ein Gruppenfoto, das sie mit ihrer Wegwerfkamera aufgenommen hat. Es ist ein Schnappschuss vom Strand, der die Kommunenmitglieder festhält, als sie alle gleichzeitig in die Luft springen: als sie wenigstens für einen kleinen Moment in ihrem Leben fliegen konnten.

Die meisten Schülerinnen und Schüler der oberen Sek I und der Sek II-Klassen werden den Film kennen. Entweder haben sie ihn gesehen oder zumindest von ihm gehört, jedenfalls werden sie sich über diesen Film ihre Meinung gebildet haben. Ein Einstieg für den Religionsunterricht (z.B. im Zusammenhang mit einem Anthropologie-Kurs) lässt sich über eine Diskussion über die eigenen (Vor-)Erwartungen zu diesem Film eröffnen. Welche Bilder vom Leben im Paradies erhoffen wir uns? Werden diese Paradiesvorstellungen im Film enttäuscht oder verstärkt? Welche Vorstellungen vom Paradies werden durch die Filmwerbung, Plakate etc. erzeugt? Vergleiche mit Werbeanzeigen der Tourismusbranche bieten sich an.

Den Gründen der negativen ('A movie only for die-hard Leo fans') und positiven Bewertungen des Films ('Possible the most misunderstood film about what paradise is really like!!') lassen sich auch im Internet nachspüren (s. z.B. die Nutzerkommentare zu 'The Beach': www.german.imdb.com). Die 'offiziellen' Werbeslogans zum Film ("Innocence never lasts forever", "Somewhere on this planet it must exist", "Paradise Found - Innocence Lost") eröffnen weitere Erschließungsmöglichkeiten.

In einem folgenden Schritt können die Filmhandlung stärker in den Blick genommen. Welche Motive treiben Richard in die Ferne? Welchen Sinn erhofft er sich von seiner Reise? Die Ursachen können zusammengetragen werden, warum das Paradiesprojekt der Strandkommune letztlich gescheitert ist. Welchen Preis sind die Strandbewohner bereit zu zahlen, um 'ihr' Paradies zu bewahren? Sind die Menschen 'von Natur aus böse', so dass sie jedes Paradies nur zerstören können? Ist das Paradies lediglich als eine uneinholbare Utopie vorstellbar? Und schließlich gilt es die Paradiesvorstellung des Films mit den Paradiesbilder aus der jüdisch-christlichen Tradition ins Verhältnis zu setzen. Inwieweit bedient sich der Film biblischer Paradiesbilder? Wie könnte ein Film aussehen, der vom 'himmlischen Jerusalem' erzählt?

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2000

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