Jetzt erst recht – ökumenische Zusammenarbeit im Religionsunterricht

von Gerald Kruhöffer

 

Die Zeit war günstig, um die ökumenische Zusammenarbeit zu intensivieren. Die Gespräche zwischen den Schulreferenten aus der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen und aus den Schulabteilungen der katholischen Bistümer in Niedersachsen haben zu einer Übereinstimmung geführt, die ökumenische Zusammenarbeit im konfessionellen Religionsunterricht weiter zu fördern und zu vertiefen. Diese Verständigung war Voraussetzung für die entsprechende Regelung in dem neuen Organisationserlass für den Religionsunterricht und den Unterricht Werte und Normen, der mit dem 1. August 1998 in Kraft getreten ist (vgl. dazu Loccumer Pelikan 2/98), und auf dessen Grundlage neue Gestaltungsmöglichkeiten für den Religionsunterricht wahrgenommen und verschiedene Formen der Zusammenarbeit erprobt werden können.

 

Theologische Grundlagen - einig in der Rechtfertigungslehre?
Im Blick auf die theologischen Grundlagen zum gegenwärtigen Stand des ökumenischen Gesprächs hat sich nun in den letzten Monaten eine neue Entwicklung ergeben, und zwar in der Diskussion um die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre.“ Nachdem die Mehrzahl der lutherischen Kirchen der Erklärung zugestimmt hat und daraufhin auch die Zustimmung des Lutherischen Weltbundes erfolgt ist, wurde am 25. Juni die „Antwort der katholischen Kirchen auf die Gemeinsame Erklärung....“ veröffentlicht.

Die offizielle Antwort würdigt die Gemeinsame Erklärung als „einen bemerkenswerten Fortschritt im gegenseitigen Verständnis und in der Annäherung der Dialogpartner“; im Blick auf die Rechtfertigungslehre ist „ein hoher Grad an Übereinstimmung erreicht“ . Auf der anderen Seite wird betont: „Trotzdem ist die katholische Kirche der Überzeugung, dass man noch nicht von einem so weitgehenden Konsens sprechen könne, der jede Differenz zwischen Katholiken und Lutheranern ausräumen wird“ .

Die katholische Kritik richtet sich vor allem gegen Aussagen über das „Sündersein des Gerechtfertigten“. Nach katholischer Lehre werde durch die Taufe die wirkliche Sünde hinweggenommen; die Begierde („Konku-piszenz“), die im Getauften bleibt, sei nicht eigentlich Sünde. Weiter wird betont, dass die Unterschiede zwischen der katholischen und lutherischen Auffassung nicht „lediglich Fragen der Akzentuierung oder sprachlichen Ausdrucksweise sind“, sie betreffen vielmehr inhaltliche Aspekte, die nicht miteinander vereinbar sind. Im Blick auf diese strittigen Fragen sind die Verurteilungen des Konzils von Trient gegenwärtig noch nicht aufzuheben.

Abschließend wird noch eine Anfrage an das lutherische Kirchenverständnis formuliert. Die vom Lutherischen Weltbund unternommene Anstrengung, durch Konsultation der Synoden eine große Übereinstimmung zu erreichen, wird anerkannt; andererseits heißt es: „es bleibt allerdings die Frage der tatsächlichen Autorität eines solchen synodalen Konsenses ... im Leben und in der Lehre der lutherischen Gemeinschaft“ .

 

Reaktionen
Robert Leicht hat den Vorgang mit der bekannten Sentenz kommentiert „Roma locuta, causa finita“ - Rom hat gesprochen, die Sache ist beendet . Bischof Karl Lehmann, Vorsitzender der Katholischen Bischofskonferenz, hebt demgegenüber vor allem die positiven Seiten hervor und erklärt im Blick auf die jetzt genannten Differenzen: „Es ist deshalb notwendig, bald die z.T. auch vom Lutherischen Weltbund geforderten Klärungen in weiteren ökumenischen Gesprächen entschieden anzugehen“ . Landesbischof Horst Hirschler, Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlands, hat die offizielle Stellungnahme der römisch-katholischen Kirche als „überraschend, um es milde auszudrücken“ bezeichnet. Der Vatikan gehe nun hinter die Aussagen der „Gemeinsamen Erklärung“ zurück, dass die Verurteilungen der Trienter Konzils nicht mehr treffen. Außerdem sei es „befremdlich, dass in einem offiziellen Text aus Rom das Zustandekommen von kirchlichen Lehrentscheidungen in der Gemeinschaft der lutherischen Kirchen problematisiert werde“ . Entsprechend äußerte sich der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland: „Die Antwort aus Rom stützt sich auf Gründe, die schon bei der Ausarbeitung der GE (= Gemeinsamen Erklärung) hätten vorgebracht werden können.... Es ist ein ökumenisch unakzeptables Verfahren, dass der Vatikan sie erst jetzt, nach dem Urteilsbildungs- und Entscheidungsprozeß im Lutherischen Weltbund und seinen Mitgliedskirchen, vorbringt.“ Dennoch beginnt die Stellungnahme mit der grundlegenden Aussage: „Unseren katholischen Freunden sagen wir: Wir bleiben zusammen. Wir lassen uns von unseren katholischen Mitchristen weder trennen noch entfernen - auch nicht durch Signale aus dem Vatikan, die alte Lehrverurteilungen bekräftigen“ .

 

Besinnung auf das Gemeinsame
Es kann kein Zweifel sein: durch die offizielle katholische Stellungnahme ist eine Ernüchterung eingetreten, die man realistisch zur Kenntnis nehmen muss. Dennoch werden die ökumenischen Begegnungen und Gespräche weitergehen. Die Fragen der Wahrheit und Wahrhaftigkeit können gewiss nicht überspielt werden. Aber gerade wenn man dies ernstnimmt, wird man feststellen, dass in unserem Jahrhundert das, was Christen beider Konfessionen verbindet, deutlicher als früher in Erscheinung getreten ist. „Es verbindet uns zwischen den Konfessionen viel mehr als uns trennt“ . In zentralen Aussagen der christlichen Botschaft haben evangelische und katholische Theologie ein hohes Maß an Übereinstimmung erreicht.

Als Beispiel soll dafür auf die gemeinsame Bibelauslegung hingewiesen werden. Seit fast drei Jahrzehnten gibt es die ökumenische Kommentarreihe „Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament“ (EKK) und seit knapp zwanzig Jahren den „Ökume-nischen Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament“ (ÖTBK). Die Voraussetzung für diese Unternehmungen besteht darin, dass sich Bibelwissenschaftler aus beiden Konfessionen „methodisch und inhaltlich so nahe gekommen sind, dass sie eine gemeinsam verantwortete sachliche Auslegung für möglich halten, die durch den wechselseitigen Austausch gefördert wird“ . Dabei kann es nicht darum gehen, das Unterscheidende und Besondere der jeweiligen Tradition zu vergleichgültigen. Vielmehr ist es wichtig, gerade auf dem Hintergrund unterschiedlicher konfessioneller Überzeugungen gemeinsam zu einem tieferen Verständnis des christlichen Glaubens zu kommen. Gerade durch Erkenntnisse der Bibelwissenschaft ist deutlich geworden, dass die Bibel in ihrer Eigenständigkeit gegenüber kirchlichen Traditionen ernst zunehmen ist. Die Annäherung im Verständnis der Bibel ist somit eine wichtige Grundlage und zugleich eine verheißungsvolle Perspektive für weitere ökumenische Gemeinsamkeit.

 

Konsequenzen für die Religionspädagogik
Für die Religionspädagogik, speziell für die ökumenische Zusammenarbeit im Religionsunterricht gilt auch nach den Entwicklungen der letzten Monate, dass man mit guten Gründen von der in den vergangenen Jahrzehnten gewachsenen ökumenische Gemeinsamkeit ausgehen kann.

In den Zehn Thesen meines früheren Beitrags (Loccumer Pelikan 2/98) hatte ich formuliert: „Die Übereinstimmung der evangelischen und katholischen Kirche in der Rechtfertigungslehre und eine weitere Annäherung im Kirchenverständnis würden der ökumenischen Zusammenarbeit zweifellos neue Impulse geben.“ Man muss realistisch sehen, dass sich diese Erwartung aufgrund der jüngsten Entwicklung jedenfalls in der gegenwärtigen Situation nicht erfüllt. Dagegen ist die unmittelbar daran anschließende Aussage weiterhin uneingeschränkt wichtig: „Auf der anderen Seite ist aber das Bewusstsein der Gemeinsamkeiten so weit gewachsen, dass Möglichkeiten der Kooperation im Religionsunterricht schon jetzt verstärkt wahrgenommen werden können.“

Die maßgebenden Stellungnahmen der evangelischen und katholischen Kirche - die EKD-Denkschrift „Identität und Verständigung“ und die Grundsatzäußerung der Deutschen Bischofskonferenz „Die bildende Kraft des Religionsunterrichts“ - haben sich für die ökumenische Öffnung des konfessionellen Religionsunterrichts bzw. für die Verstärkung der bereits praktizierten evangelisch-katholischen Zusammenarbeit ausgesprochen. Auf dieser Grundlage haben die evangelisch-katholischen Gespräche in Niedersachsen zu einer Verständigung geführt, die Voraussetzung ist für die entsprechenden Regelungen im neuen Organisationserlass für den Religionsunterricht und den Unterricht Werte und Normen. Der lange Verständigungsprozess hat zu einem Ergebnis geführt. Es kommt jetzt darauf an, die Gunst der Stunde zu nutzen, Möglichkeiten und Gestaltungsspielräume für den Religionsunterricht zu entdecken und schrittweise in der Praxis umzusetzen.

 

Perspektiven für die ökumenische Zusammenarbeit
Der Erlass bietet Rahmenregelungen, er regelt aber nicht jeden denkbaren Einzelfall. Im Blick auf die rechtliche und organisatorische Umsetzung müssen auf dieser Grundlage erst Erfahrungen gesammelt werden. Dabei werden sich vielleicht praktische Schwierigkeiten zeigen, an anderer Stelle wird sich vielleicht auch herausstellen, wie man mit den Regelungen kreativ und phantasievoll umgehen kann. Wichtig bleibt in jedem Fall, das Ganze nicht nur als ein Organisationsproblem zu sehen, sondern die Möglichkeiten konfessioneller Kooperation im Religionsunterricht theologisch und religionspädagogisch zu verantworten.

Ernst zu nehmen ist die in den evangelischen und katholischen Diasporagebieten von den jeweiligen Minderheiten geäußerte Sorge, übergangen, vereinnahmt oder in ihrer Besonderheit nicht ernstgenommen zu werden. Angesichts dieses Problems gilt in besonderer Weise der nachdrücklich betonte Grundsatz, dass der Erlass auf Konsens angelegt ist. Es kommt also bei konkreten Vorhaben der ökumenischen Zusammenarbeit darauf an, dass alle Beteiligten in das Gespräch einbezogen, dass die unterschiedlichen Überzeugungen geachtet werden, um so ein Einverständnis für eine bestimmte Lösung zu erreichen.

Auch angesichts sich abzeichnender Schwierigkeiten, gilt es die Möglichkeiten der ökumenischen Zusammenarbeit jetzt erst recht entschlossen wahrzunehmen.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/1999

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