Stilleübungen - ein Beitrag zum Leben und Lernen in der Grundschule

von Lena Kuhl 

 

Das Wort „Schule“ weist in seinem Ursprung der griechischen und lateinischen Sprache auf eine Bedeutung hin, die in unserer Zeit verlorengegangen zu sein scheint: Muße, Beschaulichkeit, Besinnlichkeit und Ruhe sind Begriffe, die von diesem Verständnis her mit Schule in Verbindung zu bringen sind.

Wir assoziieren heute weit eher Geschäftigkeit, Aktivität und Leistung und haben diese andere ursprüngliche Seite von Schule fast aus dem Blick verloren. Doch bereits vor dem ersten Weltkrieg entwickelte Maria Montessori Unterrichtsmethoden, bei denen Stilleübungen als Balance zur Betriebsamkeit ihren festen Platz hatten. Je mehr Aspekte der Zielgerichtetheit des Lernens, des Konkurrenz- und Leistungsdenkens in den Vordergrund rückten, um so stärker besann man sich auf Erfahrungs- und Lernvorgänge in Stille und Muße. Trotz der weiteren Verwissenschaftlichung des Bildungssystems in den 60er und 70er Jahren behielt die Forderung nach Berücksichtigung der „ganzen“ Person mit all ihren Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten ihren Platz und stand mal stärker, mal weniger stark im Vordergrund. In einer Zeit, die ganz auf „Beschleunigung“ ausgerichtet ist, suchen Lehrerinnen und Lehrer heute mehr denn je „Inseln der Ruhe“ für sich selbst und für die Kinder. Auswirkungen einer veränderten Kindheit werden wahrgenommen und so beschrieben, dass in jeder Klasse ein erhöhter Anteil solcher Kinder vorhanden sei, „die besondere Probleme hätten, sich für eine längere Zeit aufmerksam mit einer bestimmten Sache zu beschäftigen, die andauernd reden, fummeln, schaukeln etc. müssten.“ [1] Momente der Ruhe und Entspannung werden als Gegengewicht zum zielgerichteten Lernen im Sinn eines Ausgleichs bewusst in den Unterricht hineingenommen.

Die Erkenntnis eines natürlichen Rhythmus’ von „vita activa“ und „vita contemplativa“, von Aktivität und Besinnung, als in langer Tradition bewährter und hilfreicher Wechsel der Lebensformen setzt sich bis in die tägliche Schularbeit durch. Regelmäßige Stilleübungen sind Ausdruck dieser Erkenntnis und der Suche nach Ruhepolen. Sie können auf längere Zeit hin dazu führen, dass Kinder diese Phasen als wohltuendes Gegengewicht erleben, als Ausgleich zur vorwiegend kognitiven Arbeit, zum Schulstress und Leistungsdruck. Produktiv-schöpferisches Denken kann dabei zur Sammlung, Ruhe und Ausgeglichenheit führen. Es geht nicht darum, von Kindern von Anfang an die totale Stille und Bewegungslosigkeit zu erwarten, wie ich sie möglicherweise als Erwachsene/r in der Meditation suche. „Stilleübungen müssen nicht schweigende Übungen sein, sondern beinhalten auch Übungen, die zum Stillwerden einladen. Dabei ist mit Stillwerden nicht äußeres Stillsein gemeint, sondern inneres Stillwerden“ [2] . In der pädagogischen Arbeit geht es vor allem um eine Hilfe zum Wachsen, um ein Stärken der eigenen Kräfte und um deren Entfaltung.

Das innere Stillwerden führt immer auch zur Begegnung mit sich selbst und zu ganz neuen Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten. Die Fragen nach der eigenen Identität, nach Sinn und Zweck des Lebens und auch die Frage nach Gott, nach der Wirklichkeit Gottes im eigenen Leben erhalten Raum. „Warten, Ruhe, Stille, Unterbrechungen des Üblichen sind für religiöses Lernen höchst bedeutsam, wenn dadurch für neue Wahrnehmung sensibilisiert wird, wenn Zeiträume geschaffen werden für ein Lernen im ganzheitlichen Sinne. (....) Im priesterlichen Schöpfungslied wird die Unterbrechung und die Ruhe des Schöpfers am siebten Tag, dem Schabbat, als Höhe- und Zielpunkt der Schöpfung besungen. «Schabbat» bedeutet als Verb «unterbrechen, aufhören, ruhen». Das Ruhigwerden am Schabbat unterbricht ein zweckrationales und lineares Zeitverständnis, rhythmisiert die Zeit, damit Mensch und Schöpfung zu sich und zu Gott finden können.“ [3] So hat das Stillwerden vor allem auch eine religiöse Dimension, die im Christentum wie auch in anderen Religionen in langer Tradition und in vielfältigen Formen insbesondere im Mönchtum ihren Ausdruck gefunden hat und noch heute findet.

Die Stilleübungen im Schulalltag orientieren sich im allgemeinen am Prinzip des Einfachen und Wiederholbaren. Sie sollten daher einen festen, für die Kinder erwarteten Platz einnehmen und wiedererkennbare Zeichen bereithalten. In der Regel dauern die Übungen nicht länger als 5-10 Minuten, insbesondere dann, wenn die Klasse oder Lerngruppe noch nicht daran gewöhnt ist. Grundvoraussetzung ist, dass die Lehrkraft sich vorher mit Sinn und Zweck und den herzustellenden Bedingungen zur Durchführung von Stilleübungen vertraut gemacht und selbst positive Erfahrungen mit Stille hat. Niemand kann etwas an Kinder vermitteln, was er oder sie nicht selbst besitzt oder erfahren hat. Die Lehrkraft sollte in ihrer Person den Kinder vermitteln: „Das tut mir gut!“ Stilleübungen sind mit Sicherheit kein Patentrezept zur Ruhigstellung zappeliger und unkonzentrierter Schülerinnen und Schüler, wenn sie auch vielfach mit dieser Absicht eingesetzt werden. Kinder durchschauen es sehr schnell, wenn hinter den Bemühungen der Lehrkraft lediglich die Absicht der Disziplinierung steht.

Zahlreiche Übungen - z.B. auch Sinnesübungen - werden durchgeführt, indem die Kinder eine Grundhaltung einnehmen; dazu gehört bequemes Sitzen, freies Atmen, die Augen bleiben geschlossen oder ruhig auf einen Punkt gerichtet. Dabei können die Hände der Kinder mit besonderen „Kostbarkeiten“ gefüllt werden, die ertastet, dem Duft nach erraten oder erschmeckt werden. Klänge und Geräusche können ebenso mit besonderer Aufmerksamkeit und speziellen Aufgabenstellungen wahrgenommen werden. Bewegungs- und Körperübungen gehören zu den von Kindern besonders geliebten Stilleübungen; auch sie können zu großer Konzentration und zum inneren Stillwerden führen, wenn sie entsprechend eingeleitet und mit der nötigen Achtsamkeit durchgeführt werden. Themenbezogene Übungen können in diesem Sinn phantasiereich gestaltet werden; geübte Lehrkräfte fällt zu vielen Unterrichtsthemen passende Stilleübungen finden, die im Rahmen des Wiedererkennbaren dann auch wieder etwas Neues bietet und die Kinder fasziniert. Dieses alles geschieht im Rahmen der oben erwähnten 5-10 minütigen Übungen, die von der Lehrkraft sorgfältig geplant und ausgewählt, möglichst regelmäßig eingehalten und von den Kindern als Ritual nicht immer sofort, aber meistens nach einiger Zeit geschätzt und eingefordert werden.

Einer besonderen Betrachtung bedürfen die sogenannten Phantasiereisen und Imaginationen, die in dem oben geschilderten Rahmen mit Sicherheit keinen Platz haben. Allein vom zeitlichen Aufwand her, aber auch von der Vorbereitung durch die Lehrkraft her stehen sie ein wenig außerhalb der normalen Stilleübungen. Das hat sicher auch zu tun mit ihrer Verwendung im therapeutischen Bereich. In zahlreichen gedruckten und veröffentlichten Phantasiereisen - Texten geht es um Gefahren und um die anschließende Befreiung daraus, um Bindungen, Fesselungen und die dann folgende Loslösung, um Befindlichkeiten in Angst und Dunkelheit und die Herausführung daraus. [4] Solche Beispiele weisen auf die Notwendigkeit hin, sich als Lehrkraft oder Anleiter/in zu Phantasiereisen sehr sorgfältig vorzubereiten und insbesondere mit einem vorgefundenen Text auseinander zu setzen. Es besteht auch bei Kindern die Gefahr, Ängste freizusetzen. Die Grenzen gegenüber der Psychotherapie dürfen nicht arglos überschritten werden. Eine therapeutische Ausbildung zur Bearbeitung derartig freigesetzter Ängste haben die wenigsten Lehrerinnen und Lehrer. Es ist daher sinnvoll, als Lehrkraft für sich selbst und auch mit den Kindern zunächst längere Zeit Erfahrungen mit Stilleübungen in dem obengenannten Bereich zu sammeln, ehe man sich an die Phantasiereisen herantastet. Hilfreich kann hier eine gute Fortbildung unter Anleitung eines kompetenten Fortbildners oder einer Fortbildnerin sein.

Phantasiereisen sind ein methodisierter Vorgang der Loslösung aus der Alltagsrealität und damit der Loslösung aus den üblichen, in der Schule und auch sonst geforderten Denkweisen. Dieser Vorgang ist anfangs so ungewöhnlich und undurchschaubar, dass nicht jedes Kind sich darauf einlassen kann und mag. Das bedeutet, dass ich als Anleiter/in die Freiwilligkeit der Phantasiereise beachten muss und dass ich in der Schule mit den Kindern ausschließlich solche Orte aufsuche, die für sie positiv besetzt sind. Für jedes Kind, das nicht mitmachen kann oder möchte, muss ein Angebot der stillen Beschäftigung bereitliegen. Dabei ist es sinnvoll, diese Beschäftigung in demselben Raum durchführen zu lassen, damit das Kind durch die Beobachtung der Gruppe allmählich Vertrauen zu dem Vorgang gewinnen kann. Dieser Vorgang beginnt immer mit einer Art Einstimmungsphase, in der die Kinder aufgefordert werden, sich bequem hinzusetzen, sich zu entspannen, die Augen zu schließen oder sie auf einem Punkt ruhen zu lassen und die Körperteile von Kopf bis Fuß sowie die Atmung bewusst wahrzunehmen. Anschließend erfolgt die Anregung zu einer Reise, einer Traumreise an einen angenehmen Ort, wo dann durch lenkende Fragen und Vorschläge die Phantasie der Kinder freigesetzt wird. Eine gewisse Vertrautheit zwischen dem Sprecher bzw. der Sprecherin und der Kindergruppe ist eine unerlässliche Voraussetzung. Das bedeutet auch, dass ich als Anleiter/in meine eigene, den Kindern gewohnte Sprache spreche und möglichst nicht einen fremden Text ablese. Je nachdem, ob ich die Anregungen für eine dritte Person oder direkt als Anrede formuliere; also 3. oder 2. Person Singular einsetze, nimmt die Übung an Intensität zu. Alternativfragen, die nicht einengen sondern Entscheidungen offen lassen, sind besonders hilfreich. Wertungen wie „gut“ und „schlecht“ sowie Gefühle und Suggestionen sollten vermieden und den Erfahrungen der Kinder überlassen werden. Die Anleitungen bedeuten eine Einladung zum Träumen, zum Phantasieren und zum Erleben der eigenen inneren Bilder. Die Pausen zwischen den einzelnen Vorschlägen müssen groß genug sein, damit sich eine entsprechende Vorstellung bilden kann. Nach einer angemessenen Zeit erfolgt die Rückkehrphase, also die Rückkehr vom Phantasieort in die Alltagsrealität. Die Stationen der Hinreise werden in umgekehrter Reihenfolge durchlaufen, die körperlichen Empfindungen und die Atemtätigkeit wieder bewusst gemacht und schließlich die Augen geöffnet und die räumliche Umgebung wahrgenommen. Die Unterscheidung von Phantasie und Realität ist sehr klar zu markieren!

Relativ dicht an die Phantasiereise und möglichst ohne lange Vorbereitungszeit anschließen muss jetzt eine Phase der Verarbeitung, in der jedes Kind seine Vorstellungen zum Ausdruck bringen kann. Das kann in der einfachsten Form im Gespräch geschehen; besser und aussagefähiger sind im allgemeinen aber künstlerisch-gestalterische Formen der Verarbeitung. Dabei haben die Kinder noch eine Weile Zeit, ihren Vorstellungen nachzugehen und sie gedanklich, sprachlich oder im kreativen Tun in eine Beziehung zu sich selbst zu bringen. Im Gespräch, im freien Schreiben, im Malen oder Formen von Ton entsteht so Klärung und Vergewisserung. Kinder fühlen sich in ihren individuellen Bildern ernst genommen und werden so in ihrem Selbstvertrauen und in der gegenseitigen Achtung gestärkt. Sie lernen Achtsamkeit sich selbst gegenüber, anderen Menschen und der Welt gegenüber: ein Beitrag der Stilleübungen und Phantasiereisen zum persönlichen und sozialen Lernen.

 

Anmerkungen

  1. Maria Fölling-Albers: „Schulkinder heute. Auswirkungen veränderter Kindheit auf Unterricht und Schulleben“, Regensburg 1991, S. 38f.
  2. Gerda und Rüdiger Maschwitz: Stille-Übungen mit Kindern. München 1993, S. 117
  3. Georg Hilger: Langsamer ist mehr! Vorschläge für eine produktive Verlangsamung des Lernens im Religionsunterricht. S.216f. in: Religion in der Grundschule, hrsg.v. F. Schweitzer, G. Faust- Siehl, Frankfurt1994
  4. siehe z.B. Else Müller: Du spürst unter deinen Füßen das Gras. Frankfurt 1992, S. 175f.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/1998

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