Den Menschen im System wahrnehmen – Zur Frage der Gesunderhaltung im Beruf aus Sicht der Personalberatung

Von Tilman Kingreen

 

Beziehungen können heilen. Beziehungsstörungen hingegen, wenn sie zwischen Menschen oder auch zwischen Menschen und ihrem System entstehen, können krank machen. Alles, was den Dialog zwischen Person und System unterstützt, dient der Gesunderhaltung. Für die folgenden Überlegungen übernehme ich in einem ersten Teil Impulse aus Soziologie und Arbeitswissenschaften, um in einem zweiten Teil eigene Beobachtungen aus der Praxis der Personalberatung anzuschließen.

 
Teil 1: Einige theoriegeleitete Überlegungen zur Frage der Gesunderhaltung im Beruf

Theorie als Theorie wirkt bereits hilfreich für die Gesunderhaltung. Sie bietet keine schnellen Antworten. Sie eröffnet vielmehr Reflexionsräume. Die Komplexität nimmt erst einmal zu. Dies qualifiziert langfristig die Prozesse. Statt schneller Lösungen entstehen Momente der Entschleunigung. Das wiederum stärkt die Person. Ihre Wahrnehmung für sich selbst, die anderen und für ihr Umfeld gewinnt an Prägnanz. Gerade für Beziehungsberufe ist der damit verbundene Zugewinn an Deutekompetenz bedeutsam.

Menschliche Arbeit steht immer in der Gefahr, verdinglicht zu werden. Verdinglichung bedeutet für die Person, dass zu ihr selbst nur wenig zurückfließt. Es sei denn, das Produkt, das sie hervorbringt, wird für ausgezeichnet gehalten. Dann ist viel Lob zu hören. Resonanz reduziert sich auf das Lob. Und gelobt werden vor allem besondere Leistungen. Dieser verdinglichende Umgang löst bei vielen Menschen Müdigkeit, Enttäuschung und das Gefühl von innerer Leere aus. Aus dem vitalen Dreieck „Mensch – Produkt – Mensch“ werden zwei völlig getrennte Zweierbeziehungen: „Produzent – Produkt“ und „Produkt – Konsument“. Diese verdinglichende Sachlogik hat auch die Beziehungsberufe erreicht. Hier heißen diese voneinander isolierten Zweierbeziehungen analog „Pastor / Pastorin – Predigt“ und „Predigt – Gottesdienstbesucher /-besucherin“, „Lehrer / Lehrerin – Unterricht“ und „Unterricht – Schüler / Schülerin“.

Es ist zu beobachten, wie sich dadurch Einsamkeit ausbreitet. Enttäuschungen und das Gefühl der inneren Leere können in eine Eskalationsdynamik geraten, die sich zu einer Störung auswächst. Dies gilt es zu erkennen und möglichst zu verändern. Wie wird die Person wieder als Autorin oder Autor ihres Produkts gesehen und gewürdigt? Produktstolz statt Leistungsstolz! Die Kultur, die ein Haus prägt, wird in unserer durchorganisierten Welt dabei immer bedeutsamer. Eine Organisationskultur, in der sich die Person gesehen sieht, schafft Sinnstiftung. Eine Wir-Identität bildet sich aus. Die Verdinglichungstendenz von Arbeitserfahrungen wird minimiert. Es werden vielmehr gegenläufig positive Erfahrungen gesammelt. Die Person erfährt, dass sie für das System und im System etwas beitragen kann und wirksam ist.

Resonanz

Aus soziologischer Perspektive spricht Hartmut Rosa von einem „Resonanzdraht“, der wieder zum Vibrieren kommen muss.1 Emotionen, Wertschätzung, Beachtung, aber auch fachlicher Austausch, Zusammenarbeit und Kooperationen werden in Rosas Theorie des Weltbezugs als inhaltlich befruchtende Resonanzdrähte verstanden. Das System bildet wie ein neuronales Netzwerk verschiedenste Binnenresonanzen aus. Sie organisieren sich selbst und können als sozial organisierte Resilienzfaktoren verstanden werden. Die Person verschwindet nicht mehr hinter ihrer Rolle und Funktion. Sie wird in ihrer Rolle als Teil eines resonanten Systems als Person sichtbar.

Rosa spricht weiterführend von „Resonanzachsen“, die gelegt sein müssen. 2 Sie beschreiben in ihrer Grundstruktur die Architektur eines Systems. Welche Instanzen stehen strukturell in Resonanz zueinander? Während der Resonanzdraht die emotional erlebbare Resonanzerfahrung beschreibt, markieren Resonanzachsen die Beziehungsinstanzen. Die Resonanzachsen können aktiv sein. Sie können sich aber auch als stumpf und dumpf erweisen. Beziehungsstörungen als Ursache für psychosoziale Belastungen im Beruf können durch dieses Modell auf zwei Ebenen betrachtet werden: Erstens: Wie gestalte und erlebe ich persönlich Beziehungen im Beruf? Zweitens: Mit welcher Funktion und Aufgabe bringt mich mein System in Beziehung?

Als Themen und Anliegen im Gesundheits-Coaching kommen beide Ebenen als relevante Aspekte zur Sprache, die jeweils ihr eigenes Konfliktpotential tragen. Immer wieder benannt werden: Erschöpfungszustände, Konfliktbewältigung, Stressmanagement, mangelnde Wertschätzung und die Suche nach Rollenklarheit. 3 Ebenso stellt die Frage der jeweiligen Motive einen zentralen Aspekt für die Gesunderhaltung dar. Wie werden diese persönlichen Motive im Beruf koordiniert mit den Interessen und Zielen des Systems? Und aus welchen Motiven speisen sich diese Ziele und Interessen des Systems wiederum? Die Sinnfrage kommt in den Blick. Sie avanciert zu einem übergreifenden Thema zur Gesunderhaltung im Beruf.

Resonanzachsen

Resonanzachsen lenken die Aufmerksamkeit auf das System. Mit diesem systemischen Blick der Ebene 2 kann die Person eine Organisationsanalyse durchführen. Welche Achsen sind belebt? Zu wem hin entstehen Resonanzen? Und wo ist offenbar auch etwas zu einem Ende gekommen und bedarf einer grundlegenden Veränderung? Die Person wird als die Suchende zum Subjekt. Sie kann mit ihrer Strukturanalyse das funktionale Beziehungsverhältnis zu den jeweiligen Funktionsinstanzen und ihren konkreten Akteuren beleuchten. Gesundheitsförderlich wirken Resonanzachsen, die belebt sind. Sind sie stumm geworden, bereiten sie Mühe und können die Person zermürben. Systemisch betrachtet geht es darum, die Qualität der Resonanzachsen zu analysieren. Personalberatung fragt analog nach der Passung von Person, Rolle und Funktion. Wie produktiv erlebe ich mich selbst in dieser oder jener Resonanzachse in meinem System? Wie bewerte ich die Klangqualität der hier entstehenden Resonanzen? Ist sie noch stimmig und wo muss eventuell nachgestimmt werden?

Resonanzdraht

Mit dem Resonanzdraht von Ebene 1 wird beschreibbar, wie die Person diese resonanten Beziehungen bislang persönlich ausgestaltet, welche hilfreichen Lösungen sie dabei kennt, wie sie diese auch für die Gestaltung anderer Kontakte nutzen kann und wo sie Veränderungen sucht. Die Bedeutung, die Interaktion, Bindung und Beziehung in ihren gesundheitsfördernden Wirkungen haben, kommt in den Blick.

Autonomie und Beziehung

Psychosoziale Belastungen und Konflikte im Beruf können auf diesem Hintergrund auch als Hinweise für den Lösungsversuch verstanden werden, Widersprüchliches integrieren zu wollen und alles wieder „unter einen Hut“ zu bekommen, um daraus etwas Ganzes und Versöhntes zu machen. Im Wechselspiel von Organisationsdynamik und Person ist es vor allem die Person, die aus ihrem menschlichen Wesenskern 4 heraus immer wieder nach Lösungen strebt, die dem Leben dienen. Der Wunsch nach Abgrenzung etwa entspringt einem solchen vitalen Verlangen.

Autonomie bedarf zugleich der Erfahrung von Beziehung, Solidarität und Engagement. Der Mensch strebt nach Selbstregulation und er sucht nach sozialem Eingebunden-Sein. Solange er sich als Subjekt erlebt, verfügt er über Adaptions- und Bewältigungsmechanismen zur Gestaltung jener Resonanzachsen, die ihn selbst tragen. Autonomie und Souveränität gehören deshalb zum schützenswerten Wesen des Menschen. Als ein Beziehungswesen ist er zugleich auf aktivierende Systemresonanzen angewiesen.

Arbeitswissenschaftlich lassen sich Struktur und Person im arbeitsbezogenen Kontext über das Modell „Haus der Arbeitsfähigkeit“ von Juhani Ilmarinen zusammenführen (vgl. Abb. „Haus der Arbeitsfähigkeit“). Mit diesem ressourcenorientierten Konzept werden Person, System und Umwelt in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aus dem Erfahrungsraum der Person heraus erschlossen. Die unterschiedlichen Etagen des Hauses beschreiben relevante Kategorien, in denen Chancen und Grenzen der Handlungsfähigkeit von Person und System identifiziert werden können. Darauf aufbauende Beratungsformate im Gesundheitscoaching bedienen sich dieses Theoriegebäudes und machen es für den Dialog von Person und Organisation nutzbar.

 


Teil 2: Beobachtungen und Konsequenzen aus der Sicht der Personalberatung

Gesundheitscoaching als gezieltes Beratungsformat betrachtet die Gelenkstelle von Selbstbestimmung und Angewiesenheit und achtet auf ihre Feinjustierung. Auf sie kommt es an! Damit soll einer Überbewertung des Autonomieaspektes („Ich achte nur noch auf meine Abgrenzung“) ebenso vorgebeugt werden wie einer Überfrachtung des Beziehungsaspektes („Die Menschen brauchen mich“); wer sich allein an sich selbst orientiert, wird einsam. Wer sich dem System hingibt, brennt aus. Diese Feinjustierung im Balanceakt von Hingabe und Selbstfürsorge gehört als berufliche Aufgabe in das System. Sie darf nicht individualisiert und privatisiert werden.

In Beziehungsberufen professionell zu arbeiten, beinhaltet schließlich die Fähigkeit, als Person nicht zu verschwimmen, d. h. das richtige Maß zu finden und selber zu steuern, wie viel von meiner Person in welcher Situation sichtbar wird. Personen bringen ein System in Schwingung. Dazu bedarf es der inneren Klarheit und einer nach außen gerichteten Auskunftsbereitschaft. Wo kommt etwas in mir zum Klingen? Und wo kommt ein Klang zu mir zurück? Systemsensibilität und Selbstwahrnehmungen der Person sind zwei Seiten einer Medaille. Mitarbeitende haben ein Gespür dafür, ob sie mit ihren Möglichkeiten und den Anforderungen des Systems in Resonanz stehen. Haben sie das Gefühl, dass ihr Umfeld stumpf und leer reagiert, so reagieren sie selber irgendwann auch stumpf und leer. Sie werden hingegen lebendig, sobald sie lebendige Resonanzen spüren. Mitarbeitende zu ermutigen, Resonanzen zu benennen, sie zu identifizieren und damit auch zu sagen, wofür sie in ihrer Arbeit stehen – das ist der Einstieg in eine Kultur, die den Mitarbeitenden in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Dies kann durch kollegiale Aufmerksamkeit ebenso gefördert werden wie durch einen an den Mitarbeitenden orientierten Führungsstil. Der gelingende Dialog zwischen Person und System stellt einen wesentlichen Schlüssel für die Gesunderhaltung im Beruf dar.

„Ich bin müde und wütend.“ In diesem Doppelklang bedeutet Müde-Sein: Meine Kraft zerfließt. Müdigkeit ist eine gesteigerte Form von Trauer. Das Gefühl für sich selbst und die eigene Energie sind bereits verloren gegangen. Wütend-Sein bedeutet hingegen: Ich will meine Kräfte wieder sammeln. Müde und wütend zugleich – wird dieses doppelte Empfinden zu einem Dauergefühl, so zermürbt es den Menschen. 5 Der Mensch braucht Unterstützung, den darin verschütteten Veränderungswunsch gestalten zu können. Sich unter Begleitung seiner Situation zu stellen, wirkt heilsam und eröffnet einen spirituellen Raum. 6 Motivation und Achtsamkeit lassen sich nicht herstellen, aber ihre Entwicklung kann sehr wohl gefördert werden. Im Coaching kommen beide Begriffe in Verbindung mit „Training“ vor. Darin kommt zum Ausdruck, dass beides, Achtsamkeit und Motivation, neu entdeckt, zurückgewonnen und auch neu eingeübt werden können. Die Selbstregulationsprozesse zwischen Autonomie und Anpassung sowie zwischen Außen-Beziehung und Selbst-Beziehung werden dadurch neu angeregt. Krisen wirken produktiv, sofern sie nicht mechanistisch verstanden werden. Es geht nicht darum, zu einem ursprünglichen Zustand zurück zu gelangen. Es geht darum, eine nächste Entwicklungsstufe zu erreichen. Berufliche Krisen tragen im Unterschied zu persönlichen Krisen das deutlichere Potential, sie als Aufgabe zur Neujustierung innerer Ressourcen zu verstehen. Dazu brauchen wir aber Kommunikationsformen, die empathisch auf Gegenseitigkeit ausgerichtet sind und ein neues Handeln modellhaft erproben helfen.

Das Thema der beruflichen Gesunderhaltung im System sprachfähig zu machen, kann durch verschiedene Aktivitäten unterstützt werden. In einer Installation im Landeskirchenamt haben aus dem Team der Personalberatung Sabine Rösner, Claudia Schubert und Wolfgang Loos zum Thema „Beruf & Gesundheit“ eine Word-Cloud inszeniert. Diese Installation im ersten Quartal 2018 soll symbolisch das Thema im System sichtbar werden lassen.

Unter den Angeboten der Landeskirche im Bereich Beruf & Gesundheit (vgl. www.Jahres gespräche.de) stellt das Arbeitsbewältigungscoaching (Ab-c®) eine spezielle Präventionshilfe dar (vgl. www.Personalberatung-Kirche.de). Das Ab-c® arbeitet mit dem Modell „Haus der Arbeitsfähigkeit“. Alle beruflichen Erfahrungen werden in ihren gesundheitsförderlichen und -beschwerenden Aspekten ausgeleuchtet und Lösungswege ausgelotet. Es ist ein Gesundheitscoaching, das individuell und vertraulich erfolgt. Durch eine Kooperation von „Arbeitsstelle für Personalberatung und Personalentwicklung“ und „Gemeindeberatung und Organisationsentwicklung“ in der Landeskirche kann darauf aufbauend auch eine salutogene Organisationsentwicklung folgen. 7

 

Anmerkungen

  1. Rosa, Resonanz, 24.
  2. ebd. 52-61 und 393-420.
  3. Vgl. Kies, Personenzentrierte Supervision, 27.
  4. Vgl. Höge, Die Entwicklung des klientenzentrierten Konzepts, 25.
  5. Vgl. Beyer-Henneberger, Supervision und Burnout-Prophylaxe, 21-43.
  6. Vgl. bei den Fallbeispielen in Beyer-Henneberger, 68-189, insbesondere das erste Fallbeispiel 68-96, sowie 208-217.
  7. Bei weiterem Informationsinteresse schicken Sie eine kurze Nachricht an gesundheit-personalberatung@evlka.de.
     

Literatur

  • Beyer-Henneberger, Ute: Supervision und Burnout-Prophylaxe in pastoralen und schulischen Berufsfeldern, Stuttgart 2016
  • Höge, Dieter: Die Entwicklung des klientenzentrierten Konzepts, in: Eckert, Jochen / Biermann-Ratjen, Eva-Maria / Schwartz, Hans-Joachim (Hg.): Gesprächspsychotherapie, Berlin / Heidelberg 2. Aufl. 2012, 15-32
  • Kies, Susanne: Personenzentrierte Supervision für Lehrkräfte: Chancen für das Gesamtsystem Schule, in: Gesprächspsychotherapie und Personenzentrierte Beratung 1/2017 (Jg. 48), 23-29
  • Kingreen, Tilman: Coaching in der Kirche. In: Gesprächspsychotherapie und Personenzentrierte Beratung 4/2017 (Jg. 48), S. 189-191
  • Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 6. Aufl. 2017
  • Tempel, Jürgen / Ilmarinen, Juhani u.a. (Hg.): Arbeitsfähigkeit 2025: Das Haus der Arbeitsfähigkeit im Unternehmen bauen, Hamburg 201
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