Begabung – Berufung – Beruf

Von Matthias Hülsmann

 

BEGABUNG

Hirschhausen und der Pinguin

Meine Lieblingsgeschichte zum Thema Begabung geht so: Eckart von Hirschhausen geht in einen Zoo und kommt zum Pinguin-Gehege. Als er einen Pinguin am Beckenrand stehen sieht, überkommt ihn sofort Mitleid. Was für ein bemitleidenswertes Geschöpf: eine hässliche Figur, völlig farblos und noch nicht einmal anständige Knie. Das Tier watschelt ungelenk am Beckenrand entlang und springt ins Wasser. Und von einem Moment auf den anderen verändert sich alles. Der Pinguin schießt einmal quer durch das Becken, dreht akrobatisch ein paar Pirouetten und gleitet ohne die geringste Anstrengung wieder zurück. Das Ganze wirkt vollkommen mühelos und Hirschhausen ist zutiefst verblüfft. Dass er sich dermaßen täuschen konnte! Was auf dem Trockenen unbeholfen und peinlich aussieht, das erweist sich im Wasser als faszinierend ästhetisch. Hirschhausen ist wie verzaubert von der Grazie dieses elegant dahingleitenden Pinguins.

Diese krasse Fehleinschätzung des Pinguins wird für ihn zum Gleichnis seiner eigenen Berufsbiografie. Er erinnert sich an seine Tätigkeit als Arzt auf der Krankenhausstation und dass er sich beim Schreiben der Arztbriefe gefühlt hat wie der Pinguin an Land. Und er erinnert sich daran, dass er sich wie der Pinguin im Wasser gefühlt hat, wenn er abends auf einer kleinen Bühne als Zauberer mit seinen Kunststückchen die Augen der Zuschauer zum Strahlen brachte. Auf der Bühne konnte er seine Kreativität ausleben, die beim Schreiben von Arztbriefen eher hinderlich war.

So war es nur noch ein kleiner Schritt zu der Erkenntnis, dass es für alle Beteiligten viel besser wäre, wenn er sein medizinisches Fachwissen im Rahmen einer Show auf die Bühne bringen würde. Seine Kollegen im Krankenhaus könnten endlich in Ruhe ihre Arbeit machen, weil er mit seinen chaotischen Einfällen nicht die fein getakteten Arbeitsabläufe auf der Station durcheinanderbrachte, und Hirschhausen könnte auf der Bühne seinem Humor freien Lauf lassen, denn die Zuschauer hatten dabei sichtbar ihren Spaß. Und so kam es dann auch.

Wahrscheinlich hat Hirschhausen durch seine Fernsehshows und Bücher einen positiveren Einfluss auf die Volksgesundheit, als wenn er weiter Arzt im Krankenhaus geblieben wäre. Dabei mangelte es ihm durchaus nicht an Begabung, aber er arbeitete im falschen Umfeld. Das war Hirschhausens entscheidende Entdeckung. Erst als er das richtige Umfeld für sich gefunden hatte, konnte er seine vielfältigen Begabungen entfalten und breitenwirksam einsetzen.

Am Ende seines Buches „Glück kommt selten allein“, in dem er diese Pinguin-Geschichte erzählt, schreibt Hirschhausen: „Viel sinnvoller, als sich mit Gewalt an die Umgebung anzupassen, ist, das Umfeld zu wechseln. Wer als Pinguin geboren wurde, wird auch nach sieben Jahren Therapie und Selbsterfahrung in diesem Leben keine Giraffe werden.“1

Bei der Frage nach der Begabung geht es nicht nur um die Frage nach der Begabung, sondern auch um die Suche nach dem passenden Umfeld.
 

Gabe und Aufgabe

Eine Begabung hat jeder, dafür hat unser Schöpfer schon gesorgt. Aber für das passende Umfeld sind wir mitverantwortlich. Eine Begabung hat jeder – dieser Satz ist natürlich stark untertrieben, denn fast alle Menschen sind von ihrem Schöpfer mit einer Fülle von Begabungen ausgestattet worden.
Nicht zufällig haben einige Übersetzungen für das Gleichnis in Mt 25,14-30 die Überschrift „Von den anvertrauten Talenten“ gewählt. Begabung und Talent hängen eng zusammen.

Das Wort „Begabung“ weist über sich selbst hinaus auf einen Geber, der dem Begabten diese Gabe schenkt. So macht der Begriff Begabung zweierlei deutlich: Gott erweist sich als der Schöpfer des Menschen, der freigiebig austeilt; der Mensch wird dadurch ungefragt zum Beschenkten, dem unverdient und bedingungslos diese Gabe mit in die Wiege gelegt wurde. Die einzig angemessene Reaktion auf diese „Begabung“ besteht darin, dem Schöpfer für die Gabe zu danken.
 

Richter gesucht!

Zugleich bringt jede Begabung die Aufgabe und Verpflichtung mit sich, sie zum Wohl der Allgemeinheit einzusetzen. Wir betreiben Feuerwehren, um Brände zu löschen, nicht um die Kindheitsträume der Feuerwehrleute zu erfüllen. Gabe und Aufgabe gehören eng zusammen. Auf diesen Zusammenhang hat Martin Luther bereits 1523 hingewiesen in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei“. Weil es böse Menschen auf der Welt gibt, muss es einen funktionierenden Staat geben, der diese bösen Menschen im Zaum hält. Deshalb gilt für einen Christen, „dass du der Staatsgewalt zu dienen verpflichtet bist und dass du sie fördern sollst, womit du kannst. Wenn du darum sähest, dass es an einem Henker, Büttel, Richter, Herrn oder Fürsten fehlt und du fändest dich dazu geeignet, so müsstest du dich dazu anbieten und dich darum bewerben, damit auf jeden Fall die Amtsgewalt, die so nötig ist, nicht verachtet wird oder untergeht. Denn die Welt kann nicht auf sie verzichten.“2

Ein Blick in die Nachrichten zeigt, dass diese Worte seit 500 Jahren nichts von ihrer Aktualität verloren haben.

 


BERUFUNG

Mangelnde Begabung und göttliche Berufung

Dass Begabung und Berufung zwei vollkommen unterschiedliche Dinge sind, wird schon in der Bibel deutlich. Im Alten Testament scheint Gott geradezu planmäßig Menschen zu berufen, die für die ihnen gestellte Aufgabe völlig unbegabt sind. Gott beruft zum Beispiel Jeremia zum Propheten, doch der lehnt ab mit den Worten: „Ich bin zu jung.“ Aber Gott lässt diese Absage nicht gelten: „Sage nicht, ich bin zu jung.“

Das Gleiche gilt für Mose. Gott beruft ihn zum Führer des Volkes Israel. Doch Mose lehnt diesen Auftrag ab mit der Begründung: „Ich kann nicht reden.“ Aber auch dieses Mal lässt Gott diese Abfuhr nicht gelten, stattdessen stellt Gott Mose seinen redegewandteren Bruder Aaron zur Seite. Das ist vielleicht ein Hinweis darauf, dass Mose tatsächlich nicht gut vor Menschen reden konnte.

Viele weitere Berufungen im Alten Testament basieren nicht auf Begabung. Abraham kann mit Sara keine Kinder bekommen, dabei will Gott ihn zu einem großen Volk machen. Jona hat Angst vor dem göttlichen Auftrag; er läuft vor Gott weg und versteckt sich.

Dennoch kommt Gott immer zu seinem Ziel: Abraham und Sara bekommen einen Sohn, nachdem Sara die Wechseljahre längst hinter sich hat; Jona rettet die Stadt Ninive – gegen seinen eigenen Willen. Jeremia verkündigt dem Volk Israel Gottes Wort. Mose wird zum Führer Israels.

Mangelnde Begabung scheint im Alten Testament geradezu die Voraussetzung für eine göttliche Berufung zu sein. Und tatsächlich steht hinter dieser auf den ersten Blick schlechten Menschenkenntnis Gottes eine theologische Absicht: Gott erwählt grundsätzlich die Schwachen, die ihren Auftrag nicht aus eigenen Kräften erfüllen können. Dadurch soll deutlich werden, dass die Rettung allein Gottes Tat ist und nicht das Verdienst eines begabten Menschen.
 

Berufung und Nachfolge im Neuen Testament

Diese Grundstruktur wird auch im Neuen Testament bei der Jungfrauengeburt deutlich. Es ist Gott, der den Retter hervorbringt; Maria erfüllt für ihre Erwählung als Gottesgebärerin keine Voraussetzung; sie hat noch nicht einmal einen Ehemann. Ihr einziges „Verdienst“ ist, dass sie nicht flieht wie Jona oder sich rausredet wie Jeremia, sondern dass sie sich ohne Gegenwehr für Gottes Vorhaben zur Verfügung stellt. Deshalb antwortet sie dem Engel, der ihr diese Jungfrauengeburt ankündigt (Lk 1,38): „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Maria verhält sich dabei passiv, Gott ist der aktiv Handelnde.

Dieses bedingungslose „Ja“ zu Gottes Vorhaben ist das entscheidende Kennzeichen der Berufungen im Neuen Testament: Jesus ruft Menschen in die Nachfolge. Wieder spielt die Frage der Begabung keine Rolle. Einzig entscheidend ist der bedingungslose Gehorsam des Gerufenen. Auf den Ruf Jesu folgt beim Berufenen die sofortige radikale Lebensänderung. Zwischen Berufung und Nachfolge gibt es keinen Moment des Überlegens oder Abwägens. Insofern bildet Mt 9,9 das Grundmuster der Berufungen in Neuen Testament: „Jesus sah einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.“ Punkt. Das ist alles. Sollte der Berufene nicht sofort dem Ruf Jesu folgen, weil er vorher noch kurz etwas erledigen muss – wie zum Beispiel in Lk 9,60 den eigenen Vater zu beerdigen –, ist die Berufung in die Nachfolge bereits gescheitert.

Selbst Paulus hatte immer wieder das Gefühl, für die Aufgabe des Apostels nicht geeignet zu sein. In 1Kor 15,8 bezeichnet er sich sogar als Missgeburt, weil er anfangs die Christen verfolgt hat. Hinzu kommen seine körperlichen und psychischen Gebrechen (Gal 4,13f.; 1Kor 2,3; 2Kor 12,7). Doch gerade seine von ihm selbst leidvoll ertragene Schwäche ist es, die ihn für den auferstandenen Jesus Christus zu einem geeigneten Boten macht. Deshalb sagt Christus in 2Kor 12,9 zu ihm: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
 

Vokation

Nun hat sich die christliche Lebensgestaltung seit den Tagen der ersten Jünger grundlegend geändert. Spätestens seit das Christentum im Jahr 380 zur Staatsreligion geworden ist, stellt sich der breiten Masse der Christen – bis heute – die Frage: Wie sehen Berufung und Nachfolge aus, wenn man eine Familie zu versorgen hat, einem Beruf nachgeht und monatlich Miete zahlen muss? Hier hat die Theologie im Laufe der Kirchengeschichte durch die Lehre von der vocatio interna und vocatio externa eine hilfreiche Unterscheidung getroffen.

Es ist kein Zufall, dass evangelische Religionslehrerinnen und Religionslehrer durch die sogenannte Vokation von ihrer Landeskirche zu ihrer schulischen Aufgabe beauftragt werden. Gemeint ist hier die vocatio externa, also die äußere Berufung. Die Landeskirche beauftragt die Unterrichtenden und vergewissert sich auf sichtbare, hörbare und nachlesbare Weise, dass die Landeskirche die Unterrichtenden für geeignet hält und sie in ihrem Dienst an der Schule nach Kräften unterstützt.

Bei der vocatio interna dagegen handelt es sich um die innere Berufung eines Menschen. Sie ist naturgemäß viel schwieriger zu beschreiben und zu erfassen. Die innere Berufung bewegt sich in einem Raum von Gefühl, Intuition und Gewissheit und geht weit über eine bloße intrinsische Motivation hinaus. Weil die vocatio interna oft persönlichen, natürlichen Schwankungen unterliegt, ist es zur Selbstvergewisserung hilfreich und gut, wenn sie durch die vocatio externa gestützt, gestärkt und flankiert wird. Nach christlicher Auffassung ist es der Heilige Geist, der in einem Menschen die innere Gewissheit hervorbringt, zur Verkündigung des Evangeliums berufen zu sein.


BERUF

Berufung und Beruf

Und was ist, wenn man sich nicht berufen fühlt? Martin Luther kennt das Problem. In einer Predigt aus dem Jahre 1522 gibt er eine überraschende Antwort:

„Nun sagst du: Wie aber, wenn ich nicht berufen bin? Was soll ich denn tun?

Antwort: Wie ist es möglich, dass du nicht berufen bist? Du bist doch in irgendeinem Stand. Vielleicht bist du ein Ehemann oder eine Ehefrau oder Kind oder Tochter oder Knecht oder Magd. Wenn du ein Ehemann bist, meinst du, du hättest nicht genug damit zu tun, dich um deine Frau, dein Kind, die Angestellten und deine Güter zu kümmern, damit alles im Gehorsam Gott gegenüber geschieht und damit du niemandem Unrecht tust? Ja, selbst wenn du vier Köpfe und zehn Hände hättest, es würde nicht ausreichen.

Wenn du eine Magd oder ein Knecht bist, meinst du, dass du müßig gehen wirst, wenn du deinem Stand und deiner Aufgabe gemäß treu mit allem Fleiß deinem Vorgesetzten dienen sollst?

Wenn du ein Fürst bist, egal ob kirchlich oder weltlich, wer hat denn mehr zu tun als du, damit deine Untergebenen richtig handeln, Friede herrscht und niemandem Unrecht geschieht?

Sieh, wie nun niemand ohne Auftrag und Beruf ist, so ist auch niemand ohne konkrete Aufgabe. Daher kommt es, dass eine fromme Magd, wenn sie ihrem Auftrag gemäß hingeht und ihrem Amt gemäß den Hof fegt oder den Mist austrägt, oder ein Knecht, der mit der gleichen Einstellung pflügt und fegt, sich stracks auf dem Weg zum Himmel befindet, während ein anderer, der nach Santiago di Compostella pilgert oder zur Kirche geht, dabei aber seine Aufgaben und seine Arbeit liegen lässt, stracks zur Hölle geht.“3
 

Highway to hell

Was Luther hier über das Ausmisten als Gottesdienst sagt, ist revolutionär. Er bindet Berufung und Beruf zusammen. Diese Verbindung hat eine ungeheure Wirkungsgeschichte ausgelöst, die bis heute unsere Einstellung zu Arbeit und Erwerbstätigkeit prägt.

Jeder Mensch wird in einen Stand geboren. Dieser Stand ist mit Aufgaben verbunden. Das ist kein Zufall, sondern göttlicher Wille. Wer also in seinem Stand bleibt und seinen Beruf treu ausübt, der ist Gott gehorsam und erfüllt Gottes Gebot. So ist der weltliche Beruf Ausdruck einer göttlichen Berufung. Wenn also eine Magd im Stall einen Strohhalm aufhebt, dann ist das ein gottgefälliger Gottesdienst, denn sie dient Gott und seinem Gebot.

Wer dagegen seine Aufgabe in der Welt vernachlässigt und sich stattdessen eigene spirituelle Tätigkeiten ausdenkt wie Pilgertouren oder Rosenkranzbeten, die Gott nicht geboten hat, der ist Gott ungehorsam und – in Luthers drastischen Worten – auf dem besten Weg zur Hölle, selbst wenn er Tote auferwecken würde.
 

Heilig und profan

Luther erhebt damit die berufliche Arbeit des Menschen in den geistlichen Rang eines Gottesdienstes. Die kulturgeschichtlichen Folgen waren gewaltig. Arbeit war seit den Tagen der Griechen eine Tätigkeit der Sklaven. Benedikt von Nursia holte zwar 640 nach Christus in seiner Ordensregel „Ora et labora“ – bete und arbeite – die Arbeit aus dieser Schmuddel-Ecke, aber die Abwertung körperlicher Arbeit gegenüber den höherwertigen heiligen Tätigkeiten wie Gebet und Gottesdienst blieb bestehen. Die Ständegesellschaft des Mittelalters, auf die Luther sich ausdrücklich bezieht, kannte nur einen Stand, der eine Berufung für sich geltend machen konnte: der geistliche Stand der Kleriker. Dies kam in der Priesterweihe zum Ausdruck, die jedem Priester einen unverlierbaren qualitativen Mehrwert gegenüber den Laien-Christen verlieh.

Luthers neuer Ansatz führte gewissermaßen zu einer Demokratisierung der Berufung, indem er sie auf alle Christen ausweitete. Er machte ein Ende mit dieser Unterscheidung von heilig und profan in seiner Lehre vom Priestertum aller Getauften. Das war auch der Grund, weshalb er seit 1517 im Gottesdienst einen Talar trug, die weltliche Amtstracht des Gelehrten und Universitätsprofessors, statt des heiligen Ornats eines Priesters. Er machte damit deutlich: Auch das Amt des Pastors oder Priesters hat keinen Vorzug vor einem weltlichen Beruf. Der Stand, in den ein Mensch geboren wird, ist für Luther der Ort, an dem dieser Mensch als Christ seinen Gottesdienst im Alltag der Welt zu gestalten hat.
 

Die Geburt des Kapitalismus aus dem Geist des Protestantismus

Der Stand wird zum Beruf, und der Beruf wird zur Berufung durch Gott. Weil er in denselben Rang tritt wie der Gottesdienst, deshalb muss der Beruf entsprechend sorgfältig und zuverlässig ausgeübt werden, denn durch die unterschiedlichen Berufe erhält Gott die Welt. Soweit Luther. Für ihn stand der Beruf ganz im Dienst der Liebe zum Nächsten. Meine berufliche Tätigkeit hat den Sinn, meinem Mitmenschen zu helfen, sein Leben zu bewältigen.

An diesem Punkt unterscheiden sich das lutherische und das reformierte Berufsverständnis grundlegend, denn in der reformierten Tradition dient der Beruf in erster Linie der Selbstvergewisserung und nicht dem Nächsten.
Das wird bereits beim Reformator Johannes Calvin deutlich. Er war überzeugt: Gott hatte die Christen nicht nur berufen; er hatte auch vorherbestimmt, welche Menschen durch Gottes Gnade in das ewige Leben ins Himmelreich kamen und welche Menschen auf ewig verloren gehen würden.

Unter den Nachfolgern Calvins bildete sich im Laufe der Zeit die Auffassung heraus, dass man die göttliche Erwählung der Christen am finanziellen Erfolg in ihrem Beruf ablesen könne. Reichtum wurde zum sichtbaren Zeichen, dass sein Besitzer unter der besonderen Gnade Gottes stand. Reichtum war von nun an nicht nur erlaubt, sondern sogar religiös erstrebenswert. Man konnte also mit gutem Gewissen reich sein. Allerdings verbot die rigorose reformierte Ethik, diesen Reichtum zu genießen und sich etwa ein Leben in Luxus und Müßiggang zu gönnen. Weil Verzicht und Fleiß weiterhin die entscheidenden christlichen Werte darstellten, lag es nahe, den finanziellen Gewinn wieder in die Arbeit und in die Produktion zu investieren. Das führte oftmals zu weiterem Wachstum und zu steigenden Gewinnen und verstärkte so den kapitalistischen Kreislauf von Profitsteigerung und Investition.
Der Soziologe Max Weber stellte 1905 in seiner Schrift „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ die These auf, dass diese reformiert-calvinistische Frömmigkeit und ihre „innerweltliche Askese“ die Verbreitung des Kapitalismus maßgeblich befeuert hat.
 

Beruf und Sinn

Das Berufsverständnis Luthers und Calvins prägt bis heute unser gesellschaftliches Selbstverständnis. Das protestantische Merkmal einer gewissenhaften Pflichterfüllung im Beruf ist nach wie vor auch in unserer durchsäkularisierten Arbeitswelt weit verbreitet.

Eine Berufstätigkeit ermöglicht nicht nur den Lebensunterhalt in Form von Lohn und Gehalt. Der Beruf erzeugt Sinn. Die Erwerbsarbeit ist für viele zu einer Identitätsstifterin geworden. Das bedeutet, dass der Beruf zu einem Teil der eigenen Persönlichkeit wird, von dem das eigene Selbstwertgefühl und oft sogar die eigene Würde abhängen. Deshalb wird Arbeitslosigkeit meist als schwerer Makel erlebt und entsprechend gefürchtet.

Die heutige Freiheit in der Berufswahl ist ein sehr junges Phänomen. In der Ständegesellschaft des Mittelalters war der berufliche Weg eines Menschen bereits von der Wiege an vorherbestimmt. Was auch heute noch für die meisten Kinder aus Königshäusern gilt, das galt damals für alle Gesellschaftsschichten: Der Sohn des Fürsten wurde ein Fürst; der Sohn des Bauern wurde ein Bauer; die Tochter der Magd wurde eine Magd. Dieses Prinzip war bis vor wenigen Generationen in Geltung.

Heute hat jeder Mensch theoretisch die Chance, seine Berufsbiografie frei zu wählen. Diese Freiheit ist allerdings verbunden mit der Notwendigkeit, selbst entscheiden zu müssen. Weil jede Berufsbiografie auf einer Vielzahl von Entscheidungen beruht, trägt jeder Mensch das Risiko für seine berufliche Entwicklung selbst.

 

Anmerkungen

  1. Hirschhausen, Glück, 356.
  2. WA 11, 254 f.
  3. WA 10 I/1, S. 308 f.

 

Literatur

  • von Hirschhausen, Eckart: Glück kommt selten allein …, Reinbek 16. Aufl. 2010
  • Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff. (WA)
  • Weber, Max, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Stuttgart 2017