Biografische Skizzen geschlechtlicher Identität

Von Niki Trauthwein

 

Eine Auseinandersetzung mit den Lebensgeschichten anderer Menschen ist Gegenstand von verschiedenen Disziplinen und Fachbereichen. Auch im privaten Bereich erlebt die Biografie in der Literatur eine Renaissance. Wir begegnen Biografien in der Literatur- und Geschichtswissenschaft, der Psychologie, der Medizin und der Theologie oder lesen Biografien von Politikern, Wissenschaftlern und anderen berühmten Personen privat. Eine Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der individuellen Lebensgeschichte von Personen scheint Menschen zu fesseln. Doch was ist mit Lebensgeschichten, die einem nicht so direkt zugänglich sind? Von Menschen, über die wir allgemein in der Öffentlichkeit nur selten etwas mitbekommen? Anderen Menschen eine Stimme zu geben, die vielleicht auch im Laufe der Geschichte nahezu vergessen worden sind – besonders bei einem Heft zum Thema Gender – bietet die Chance, sich auch immer wieder selbst herauszufordern. Aus den Erfahrungen und Erlebnissen der hier vorgestellten Personen ergeben sich individuelle Stärken und Ressourcen, um rückblickend eigene vorhandene Handlungs- und Denkmuster zu verstehen und bei Bedarf bearbeiten zu können. Die Auseinandersetzung mit Lebensgeschichten in der Gegenwart leistet bereits Erinnerungsarbeit. Gesellschaftliche Erinnerungsarbeit leisten wir ganz selbstverständlich, wenn wir an den Mauerfall denken, in den Schulen und andernorts über den Holocaust reden oder uns mit Religion beschäftigen. Nur sehr selten bietet sich jedoch die Möglichkeit, über Geschlecht in Verbindung mit Rollenerwartungen, Identität und individuellen Lebenserfahrungen nachzudenken. Ein Blick in die Vergangenheit bietet Veränderungspotential für die Zukunft. So ist die Beschäftigung mit der Vergangenheit eine Art Grundlage, eine mögliche Veränderung für die Zukunft entwickeln zu können.


Die Nonne-Fähnrich oder die Geschichte der Catalina de Erauso

Catalina de Erauso wurde 1592 in San Sebastián, Spain, geboren und starb 1650 in Cuetlaxtla im Vizekönigreich Neuspanien. Während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war sie eine bekannte Persönlichkeit des Baskenlandes, Spaniens und Lateinamerikas. Bis zum heutigen Tag wird ihre Biografie international neu aufgelegt und in verschiedenen Fächern, wie bspw. der Geschichtswissenschaft, der Biografieforschung und den Geschlechterwissenschaften behandelt. Sie lebte die meiste Zeit ihres Lebens als Mann und gab sich abwechselnd Namen wie Pedro de Orive, Francisco de Loyola, Alonso Diaz Ramirez de Guzman und Antonio de Erauso.
 

Frühe Jahre

Geboren wurde sie als Kind von Miguel de Erauso und Maria Pérez de Arce Gallarrag. Ihr Vater Miguel war ein bedeutender militärischer Führer, welcher dem König Philip III von Spanien nahestand. Durch diese gehobene gesellschaftliche Stellung war es der Familie möglich, Catalina und ihre beiden Schwestern auf eine Klosterschule zu schicken. Im Alter von vier Jahren trat Catalina dem dominikanischen Konvent in San Sebastian bei. Zu dieser Zeit war es normal, dass junge Mädchen neben einer allgemeinen Bildung im Kloster ebenso entsprechend den damals üblichen Kriterien des Katholizismus die „weiblichen Aufgaben“ in Ehe und Gesellschaft lernten. Catalina rebellierte im Laufe der Jahre zunehmend gegen die Rollenerwartungen an sie als Frau, weshalb die Nonnen sie zur Disziplinierung in das viel strengere Kloster San Bartolome de San Sebastian verlegten. Dort wurde ihr bewusst, dass sie keinerlei religiöse Berufung empfindet und kein Gelübde ableisten mochte. Mit 15 Jahren floh sie am 16. März, dem Feiertag des San Jose, aus dem Kloster und fertigte sich Männerkleidung aus Kleidungsstücken an, die sie ein paar Tage zuvor unter einem Baum in der Nähe des Klosters versteckt hatte.
 

Auf der Flucht – in männlicher Kleidung

Ihr Weg führte sie in die etwa 20 Kilometer von San Sebastian entfernte Stadt Vitoria. Dort traf sie auf einen Arzt, welcher ihr Kleidung gab und Unterkunft gewährte. Wahrscheinlich kannte sie ihn, weil er mit der Cousine ihrer Mutter verheiratet war. Bei ihm bliebt sie, jedoch ohne sich als Catalina zu erkennen zu geben, für etwa drei Monate und erhielt etwas Unterricht in Latein. Danach floh sie erneut, stahl etwas Geld vom Arzt und traf einen fahrenden Händler, welcher sie mit nach Valladolid nahm. Zu dieser Zeit war Valladolid der Sitz des königlichen Hofes von Philip III. Unter dem Namen Francisco de Loyola schaffte sie es, eine Stelle als Page am Hof des Königs zu erhalten. Eines Tages, als ihr Vater zu Besuch am Hofe gewesen war, erkundigte er sich bei einem guten Freund über den möglichen Verbleib seiner Tochter. Catalina bekam es mit, als sie zufällig ihrem Vater begegnete und dieser sie überraschenderweise nicht erkannte. Daraufhin beschloss sie erneut zu fliehen. Diesmal führte ihre Flucht sie nach Bilbao. Kurz nach ihrer Ankunft geriet sie in einen Straßenkampf mit mehreren Männern und verwundete einen mit einem Stein am Kopf. Infolgedessen wurde sie festgenommen und verbrachte einen Monat lang im Gefängnis. Nach ihrer Haftentlassung arbeitete sie noch für zwei weitere Jahre als Page in Bilbao, bevor sie als Mann zurück in ihre Heimatstadt kehrte. Dort kümmerte sie sich pflegerisch um ihre Angehörigen, nahm an Gottesdiensten teil und arbeitete für ihre Tante, ohne dass sie jemand wiedererkannte. Nach einiger Zeit reiste sie nach Sanlucar de Barrameda und heuerte auf dem Schiff von Kapitän Estaban Eguiño als Kabinenjunge an. Das Schiff setzte Segel nach Lateinamerika.
 

Die Kolonialkriege und die Legendenbildung

Nachdem sie mit der Schiffsbesatzung etwa 1619 in Chile angekommen war, schloss sie sich der Armee an. Für drei Jahre verblieb sie in Chile und kämpfte im Krieg von Arauco gegen die Mapuche. In der Schlacht von Valdivia verlieh man ihr für ihre Verdienste den Rang des Oberleutnants. Wegen ihrer grausamen Taten gegenüber den Ureinwohnern und zahlreicher Beschwerden aus den eigenen Reihen wurde sie jedoch kein weiteres Mal befördert. Nach etlichen weiteren Schlachten, an denen sie beteiligt war, floh sie dann über die Anden nach Argentinien und von dort aus nach Bolivien, weil man sie wegen ihrer Kriegsverbrechen verfolgte. In Potosí, einer Stadt in Bolivien, fand sie erneut eine Anstellung in einem der Kolonialheere. Die Situation für Catalina spitzte sich jedoch immer weiter zu. Sie wurde infolge ihrer Taten mehrmals inhaftiert, einmal gefoltert und ersuchte Asyl in verschiedenen Kirchen. Nachdem man sie zur Todesstrafe verurteilte, floh sie nach Peru.
 

Rückkehr nach Spanien und Audienz bei Papst Urban VIII

Im Jahr 1623 inhaftierte man sie in Peru erneut. Um ihrer Hinrichtung zu entgehen, flehte sie bei Bischof Augustin de Carvajal um Gnade und gestand, dass sie eine Frau und entflohene Glaubensschwester ist. Anschließend an eine Untersuchung durch den Bischof bewahrheitete sich Catalinas Aussage und er nahm sie in seine Obhut. Um sie vor der Strafverfolgung zu schützen, schickte er Catalina zurück nach Spanien. Zwischen den Jahren 1625 und 1626 petitionierte Catalina bei der Spanischen Krone, um einen ihr zustehenden Sold für die geleisteten Militärdienste in der Neuen Welt zu erhalten. Da es zu dieser Zeit als unmöglich galt, dass eine Frau Militärdienst geleistet hat, sorgte ihre Geschichte für viel Aufsehen. Sie wurde der Inquisition vorgeführt, die sie allerdings nicht anklagte, obwohl sie hierzu die Möglichkeit gehabt hätte. Es war anders als es noch bei Johanna von Orleans der Fall gewesen war, die am 19. Mai 1431 in zwölf Fällen – darunter Mord, weil man sie nicht als Soldat anerkannte – zum Tode verurteilt wurde. Ihre Geschichte reichte so weit, dass Papst Urban VIII sie zu einer Audienz nach Rom einlud. Wie die Audienz verlief, ist leider nicht überliefert. Es findet sich jedoch im Archivo General de Indias and the Real Academia de la Historia de Madrid ein schriftlicher Nachweis über ihre geleisteten Militärdienste. Daher ist von einer Anerkennung durch den Papst auszugehen und auch, dass er – anders als bei Johanna von Orleans – das Tragen von Männerkleidung und ihr Auftreten als Mann zumindest billigend hinnahm.
 

Rückkehr nach Amerika und Tod

Im Jahr 1630 segelte sie erneut nach Neu Spanien und eröffnete in der Stadt Orizaba im Bezirk von Veracruz ein eigenes kleines Geschäft als Maultiertreiberin. Die genauen Umstände ihres Todes sind unklar. Einheimische haben berichtet, sie sei mit einem überladenen Boot gekentert oder bei einer Bergüberquerung auf dem Rücken eines ihrer Esel verstorben. Die plausibelste Geschichte ist jedoch, dass sie im Dorf Cotaxtla starb. Der Historiker Joaquin Arroniz gibt an, dass ihre sterblichen Überreste heute in der Kirche von San Juan de Dios in Orizaba zu finden sind. Wie auch immer die Geschichte sich nun zugetragen hat, so gibt es keinen Nachweis über die Art ihres Todes und keinen Hinweis auf ihr Grab. Hier endet die Geschichte in den Überlieferungen vorzeitig.

 

Angie Stardust – die Big Mama auf St. Pauli

Geboren wurde Angie Stardust 1940 in Norfolk, Virginia. Aufgewachsen ist sie jedoch in Harlem, New York. Bereits in der Kindheit merkte Angie Stardust, dass sie eine Frau ist. Dies führte seitens des Vaters regelmäßig zu Vorfällen häuslicher Gewalt. Auf der Straße in Harlem lernte Angie Stardust jedoch bald eine transgeschlechtliche Frau kennen, mit der sie sich anfreundete und die ihr weibliche Hormone besorgte. Als New Yorker Drag Queen hatte sie seit dem Alter von 14 Jahren in Clubs wie der Jewel Box Revue Auftritte.

In den 1960er Jahren in New York, wo afroamerikanische Entertainer in vielen Etablissements nicht willkommen waren und weiße Drag Queens nachts vor einem überwiegend heterosexuellen Publikum auftraten, schaffte es Angie Stardust, eine Ausnahme zu sein. Im Club 82 trat sie bereits Ende der 1950er Jahre auf und wurde dadurch zum ersten afroamerikanischen Bühnenstar. Im Jahr 1974 kam sie dann nach Deutschland.

Unter anderem fand sie Anstellung in der Showgruppe des „Chez Nous“ in Berlin und dem „Pulverfass Cabaret“ in Hamburg. Später ließ sie sich in Hamburg nieder und war 1983 die Managerin des ersten rein männlichen Stripclubs in Hamburg, dem „Crazy Boys“.

Im Jahr 1991 gründete sie „Angie’s Nightclub“, in dem sie selbst bis 1999 auftrat. Nach einer Serie von Schlaganfällen gab sie ihren Club an eine Nachfolge ab. Ihren Namen trägt der Club bis heute noch und befindet sich seit jeher an der gleichen Stelle über dem „Schmidt’s Tivoli“. Einer ihrer letzten Auftritte fand zum zwanzigjährigen Jubiläum des „Pulverfass Cabaret“ statt, wo sie auf der Bühne einen ihrer Hits, „Do it yourself“, sang.

Schon bevor Angie Stardust ihren Nachtclub gründete, war sie eine bekannte Größe auf dem Kiez von St. Pauli. So trat sie u.a. im „Pulverfass Cabaret“ auf und auch dort wurde sie schnell zu einem Star in der allerersten Reihe auf der Bühne. Ihre Beziehung zu Heinz-Diego Leers, dem Inhaber des „Pulverfass Cabaret“, ging über das Professionelle hinaus und so schenkte er ihr die Summe für ihre geschlechtsangleichende Operation. Während ihrer Zeit in Hamburg engagierte Angie Stardust sich zudem für andere transgeschlechtliche Menschen. So ermöglichte sie anderen, die von Obdachlosigkeit betroffen waren und die sie in New York und in anderen Städten, wie auch auf St. Pauli, traf, bei ihr eine Unterkunft finden zu können. Sie versuchte diesen Menschen eine Anstellung zu vermitteln, damit sie finanziell auf eigenen Beinen stehen konnten. Einige durften in ihrem Nachtclub auf der Bühne ihre ersten Auftritte darbieten und als Nachwuchskünstler_innen durchstarten. Nicht alle strebten jedoch eine Bühnenkarriere an, und so nutzte Angie Stardust ebenfalls ihre Kontakte zu Freunden und Kollegen auf der Reeperbahn, um alternative Anstellungsmöglichkeiten zu finden.

Im Jahr 1983 trat sie in Rosa Praunheims Film „Die Stadt der verlorenen Seelen“ auf. Als eine der Hauptdarstellerinnen thematisiert sie dort in vielen Szenen Thematiken wie Diskriminierung aufgrund der Ethnizität, gesellschaftliches Unverständnis bezüglich ihrer Transgeschlechtlichkeit, häusliche Gewalt seitens ihres Vaters und besingt die „schamlose Liberalität Berlins“ als eine Stadt, in der Menschen „ihr Geschlecht und ihren Namen wechseln“. Dies war der erste deutschsprachige, in der Bundesrepublik produzierte Film nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem transgeschlechtliche Menschen selber zu Wort kamen und über ihr Leben berichteten. In den 1980er Jahren war dieser Film sehr bedeutsam, weil sich das erste Mal Aktivismus und filmisch-mediale Darstellung vermischten. Dadurch wurde das Thema einem größeren Publikum zugänglich gemacht und viele Menschen, die bisher wenig Zugang zu Informationen besaßen, konnten erreicht werden. Angie Stardust und Jayne County als Darstellerinnen sowie der Film selbst gerieten jedoch alsbald ins Vergessen.

1-17_trauthwein_katalinas
Portrait Katalinas de Erauso Foto: www.katalinapastorala.eus
1-17_trauthwein_stardust
Angie Stardust - Foto: Schmidts TIVOLI GmbH