Ethik im Neuen Testament

von Gerald Kruhöffer

 

Was sollen wir tun? Diese Frage wird zu allen Zeiten gestellt – in alltäglichen Lebenssituationen, aber vor allem dann, wenn besondere Entscheidungen zu treffen sind. Die Frage „Was sollen wir tun?“ spielt auch im Neuen Testament eine wichtige Rolle (z. B. Mk 10,17; Lk 3,10; 10,25; Apg 2,37). Ob man bei den neutestamentlichen Forderungen nach einer verantwortungsvollen Lebensgestaltung von einer „Ethik“ im eigentlichen Sinn sprechen kann, ist dabei wiederholt diskutiert worden. Zweifellos liegt im Neuen Testament kein „Theorieunternehmen“ vor, keine umfassend ausgearbeitete „Lehre von den sittlichen Werten, Normen und Handlungen“ (Schnelle 2007, S. 295). Wohl aber haben die ethischen Forderungen einen grundlegenden Charakter. „Deshalb ist es sinnvoll, auch weiterhin von einer Ethik Jesu“ – und des Neuen Testaments insgesamt – „zu sprechen“ (Schnelle, a.a.O., S. 94, vgl. die weiteren dort aufgeführten Argumente).


Jesus – Reich Gottes und Nächstenliebe

Vielfach wird die „Ethik Jesu“ als Zentrale seiner Botschaft und seines Wirkens angesehen. Seine unbedingte Forderung, das Gebot der Nächstenliebe, das er mit seinem eigenen Leben bewährt, er-scheint vielen Menschen überzeugend, oft auch denen, die ein kritisches oder distanziertes Verhältnis zum Christentum haben. Es ist allerdings zu beachten: Die Ethik steht nicht im Zentrum des Neuen Testaments. Die Mitte bildet vielmehr die Botschaft vom Reich Gottes (bei Jesus) und die Verkündigung von Jesus Christus (bei Paulus und den übrigen Schriften); die ethischen Forderungen sind daher am Reich Gottes bzw. an der Christusbotschaft orientiert (vgl. Becker 1995, S. 277; Hahn 2002, S. 660f.) und gewinnen gerade in diesem Zusammenhang ihre besondere Bedeutung.

So wird Jesus von einem Schriftgelehrten gefragt: „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ (Lk 10,25) Eine Antwort auf diese Frage findet sich bereits im Gesetz des Alten Testaments, der Tora (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Lk 10, 27; vgl. Mt 22,37-39; Mark 12,29-31). Jesus nimmt diese Worte des Alten Testaments auf. Dabei findet sich die Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe gelegentlich schon vor ihm, sie ist allerdings in besonderer Weise für seine Botschaft charakteristisch. Für ihn gehören die Gottesbeziehung und die Beziehung zu den Mitmenschen untrennbar zusammen.

Das Wort „lieben“ meint im Neuen Testament nicht (im Sinne des griechischen eros) das leidenschaft-liche Begehren nach dem Schönen, Wahren und Guten. Lieben (griechisch: agapán) meint vielmehr die selbstlose Hingabe, das Füreinander-Dasein. Es ist eine „aus dem Herzen kommende Zuwendung und ein damit verbundenes Handeln“ (Hahn 2002, S. 662)1. Da jeder immer schon weiß, was es heißt, sich selbst zu lieben, wird auch verständlich, was es bedeutet, den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Es geht darum, nicht allein um das eigene Selbst zu kreisen, sondern den Nächsten wahrzunehmen und sich ihm zuzuwenden, wie es in der jeweiligen Situation gefordert ist.

Genau dies macht die im Lukasevangelium überlieferte Beispielgeschichte vom barmherzigen Samariter deutlich (Lk 10,30-37). Sie ist aus der Perspektive des Menschen erzählt, der überfallen wird, hilflos am Weg liegen bleibt und dann unerwartet Hilfe erfährt – ausgerechnet von einem (mit den Juden verfeindeten) Samariter: „Und als er ihn sah, jammerte er ihn“. Seine Tat der Liebe geschieht spontan. Sie ist unmittelbarer Ausdruck des Erbarmens mit dem, der hilflos am Wege liegt.

In der Deutung der Geschichte vollzieht sich eine Umkehr in der Wahrnehmung der Mitmenschen. Aus der Frage: „Wer ist mein Nächster?“ wird die andere: „Wem bin ich der Nächste?“ (vgl. Lk 10,36f). Dabei gibt es im Sinne Jesu keine Einschränkungen, vielmehr kann mir jeder zum Nächsten werden. Damit mutet Jesus den Menschen zu, die Mitmenschen in ihrer jeweiligen Situation wahrzunehmen und so zu entdecken, was im Sinne des Gebotes der Nächstenliebe zu tun ist (vgl. Schnelle 2007, S. 104). So nimmt das Liebesgebot „die Jünger Jesu als Friedensstifter und Diener der Versöhnung in Pflicht, damit sie Streit überwinden, Verständigung fördern und sich für friedliches Zusammenwirken der Menschen in ihrem Lebensbereich mit Wort und Tat einsetzen“ (Lohse 1988, S. 43).


Die Herausforderung der Bergpredigt

In besonderer Weise steht die Bergpredigt (Mt 5-7) für die unbedingte ethische Forderung, die Jesus verkündigt und gelebt hat. Aber auch die Bergpredigt ist an der Gottesherrschaft orientiert. So stehen die Seligpreisungen programmatisch am Anfang (Mt 5,3-11), in denen die Menschen selig gepriesen werden, die sich auf Gottes barmherzige Zuwendung verlassen. In diesem Gottesverhältnis ist die ethische Forderung begründet. „Die Bergpredigt entfaltet den Zuspruch wie auch den Anspruch der Barmherzigkeit Gottes“ (Lohse, a.a.O., S. 51).

Die Auslegung des Willens Gottes erfolgt in besonders pointierter Weise in den Antithesen der Berg-predigt. „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: „Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig …“ (Mt 5, 21f). Das Gebot „Du sollst nicht töten“ hat die Aufgabe, das Leben in der menschlichen Gemeinschaft zu schützen. Jesus verschärft dieses Gebot, er führt es auf seine Wurzel zurück, indem er zeigt: Das Böse hat seinen Ursprung nicht im Tun, sondern im Herzen des Menschen. Diese Einsicht will Menschen dazu bewegen, das Leben der Mitmenschen zu achten und das gemeinsame Leben zu bewahren. „Leben besteht in der Beziehung der Liebe, die nicht beeinträchtigt wird von Hass oder Zorn“ (Weder 1994, S. 107).

Eine besondere Zuspitzung formuliert die letzte Antithese: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel …“ Die Aufforderung, den Feind zu hassen, ist in dieser Form im Alten Testament nicht zu finden. Der Nächste ist allerdings nach ver-breitetem Verständnis der Angehörige des eigenen Volkes, nicht der Fremde. Demgegenüber fordert Jesus: „Liebt eure Feinde!“ Dabei ist zunächst an die persönlichen Feinde gedacht, aber auch an die Verfolger der Gemeinde. Es kommt dabei nicht auf das Gefühl an, mit dem man die Feinde sympathisch oder liebenswert findet. Vielmehr geht es darum, auch die Gegner als Menschen, als Geschöpfe Gottes zu achten und sich entsprechend zu ihnen verhalten. Für die Liebe, die Jesus verkündigt und lebt, gibt es keine Grenze. Deshalb steigert er die Nächstenliebe zur Feindesliebe. Denn die Liebe in seinem Sinne wendet sich nicht nur dem Liebenswerten zu, sondern sie macht das Nichtige zum Geliebten.

Jesus begründet dieses Gebot mit dem Wirken Gottes, des Schöpfers: „Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Jesus sieht die Schöpfung im Licht seiner besonderen Gotteserfahrung, von der vorbehaltlosen Liebe Gottes zu allen Menschen. So spiegelt das Tun der Liebe das schöpferische Wirken Gottes und überwindet auch die trennenden Grenzen der Feindschaft.

Immer wieder ist die Bergpredigt als eine starke Herausforderung verstanden worden. So versuchen die unterschiedlichen Deutungen ihre radikalen Forderungen abzuschwächen oder einzugrenzen: Die Weisungen der Bergpredigt gelten nur für die „vollkommenen Christen“; sie dienen nur zur Erkenntnis der Sünde; sie gelten nur für eine begrenzte Zeit, oder sie richten sich hauptsächlich an die Gesinnung.

Zweifellos ist die Liebe, die von der Gottesherrschaft bestimmt wird, mit weltlichen Mitteln nicht her-stellbar. „Die Forderung Jesu ist überhaupt nur denkbar als eine, die in das Herz des Menschen gelegt ist!“ (Weder, a.a.O., S. 155). Als Ausdruck des gelebten Glaubens bringt die Bergpredigt aber die Liebe in das Vernünftige weltlicher Verhaltensweisen hinein und ist gerade so für die Gestaltung der Welt in erheblichem Maße von Bedeutung. Die Relevanz der Bergpredigt für die Politik liegt „nicht darin …, ein politisches Programm oder eine politische Strategie bereitzuhalten, sondern in den Konsequenzen, die von dem dort zu bergenden Menschenbild und Weltverhältnis für die Politik ausgehen“, und das „hat seinen ethischen Kern in der Anerkennung des Anderen als Person“ (Stein 2009, S. 50).


Paulus – Ethik der Freiheit 2

Das Geschehen von Kreuz und Auferweckung Jesu bildet die Mitte der Theologie des Paulus. In diesem Geschehen wird die Gerechtigkeit Gottes offenbar, d.h. seine Treue und Barmherzigkeit, mit der er sich den Menschen zuwendet. Paulus verkündigt das Christusgeschehen als eine umfassende Befreiung: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1). Damit macht der Apostel deutlich: Jesus Christus befreit aus der Gottesferne und Selbstsucht. Er befreit zum Vertrauen auf Gott und zur Liebe: „Denn in Jesus Christus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (Gal 5,6). Die Befreiung zu Gott hängt (wie bei Jesus) mit der Beziehung zu den Menschen untrennbar zusammen. Deshalb spricht Paulus von dem Glauben, der in der Liebe wirksam ist. Das ethische Tun hat seinen Grund in der befreienden Gotteserfahrung, die durch Jesus Christus erschlossen ist.

Im weiteren Zusammenhang weist Paulus ausdrücklich darauf hin, dass der Einzelne die Freiheit nicht für sich haben kann: „Ihr seid ja doch zur Freiheit berufen, Brüder. Nur sorgt dafür, dass die Freiheit nicht eurer Selbstsucht Raum gibt, sondern dient einander in der Liebe!“ (Gal 5,13). Die in Jesus Christus begründete Freiheit ist auf die menschliche Gemeinschaft bezogen und will daher als Liebe wirksam werden. Im Blick auf die Tradition fügt Paulus hinzu, dass das ganze Gesetz (die Tora) im Gebot der Nächstenliebe seine Erfüllung findet (Gal 5,14; vgl. Röm 13,9f). Für die Praxis ist dabei festzustellen: „Von der urchristlichen Ethik, wie sie in den Gemeinden gelehrt und im Handeln der Christen vollzogen wurde, nahm die Umwelt mit wachsendem Respekt Kenntnis“ (Lohse 1988, S. 135).

Neben der Begründung der Ethik im Christusgeschehen und in der Rechtfertigungsbotschaft nimmt Paulus Begriffe der zeitgenössischen Philosophie auf: „Weiter, liebe Brüder: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob – darauf seid bedacht“ (Phil 4,8). Paulus setzt also voraus, dass das ethisch Gute von der menschlichen Vernunft erkannt und auf Grund vernünftiger Einsicht auch getan werden kann. Er fordert deshalb dazu auf, zu prüfen, „was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkom-mene“ (Röm 12,2). Damit erhält die verantwortliche Entscheidung des Menschen eine wichtige Bedeu-tung. Bei alledem kommt jedoch dem Liebesgebot eine exklusive Stellung zu. „Die Liebe war in beson-derer Weise als ethisches Leitprinzip geeignet, weil sie gleichermaßen das geschenkte Gottesverhältnis, das neue Selbstverständnis und das veränderte Verhalten gegenüber dem Nächsten zu erfassen vermag“ (Schnelle 2007, S. 302).


Konkrete Weisungen

Wichtige ethische Weisungen der neutestamentlichen Schriften (in exemplarischer Auswahl) zeigen, welche Impulse zur Lebensgestaltung von der Reich-Gottes-Botschaft und der Christusverkündigung ausgehen, und wie das Gebot der Nächstenliebe in den konkreten Weisungen Gestalt gewinnt. „Es gibt bei aller Freiheit in der neutestamentlichen Ethik eindeutige Grund- und Grenzbestimmungen sowie klare Richtungsangaben für das Handeln. Alle Weisungen … haben dabei die Funktion von Orientierungshilfen“ (Hahn 2002, S.736).


Frauen und Männer – die Ehe

Aus dem Wirken Jesu ergibt sich im Unterschied zu verbreiteten patriarchalischen Anschauungen eine neue Sicht der Frauen. So wird in Luk 8,1-3 von Jüngerinnen berichtet; und ein Kreis von Frauen folgt ihm bis zur Kreuzigung in Jerusalem (vgl. Mk 15,40f). Dies ist im Blick auf die Umwelt ungewöhnlich und stellt offenbar ein Charakteristikum im Wirken Jesu dar. In den urchristlichen Gemeinden spielen Frauen oft eine wichtige Rolle (vgl. u.a. Apg 16,14f; Röm 16,1-16; Phil 4,2f). Denn durch Jesus Christus haben die Unterschiede zwischen den Menschen eine neue Bewertung erfahren. So formuliert Paulus programmatisch: „… da ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid alle einer in Jesus Christus“ (Gal 3,28; ähnlich 1. Kor 11,11f). Mann und Frau haben vor Gott die gleiche Würde3. Die Aussage, es „sollen die Frauen schweigen in der Gemeindeversammlung …“ (1. Kor 14,34) stammt dagegen sehr wahrscheinlich nicht von Paulus, sondern ist erst später in den Zusammenhang eingefügt worden. Für die urchristlichen Gemeinden gilt vielmehr, dass auch eine Frau die Gnadengabe der prophetischen Rede hat (1. Kor 11,5).

Für die Gemeinschaft der Ehe ist ihre Begründung in der Schöpfung wesentlich (Mk 10, 2-09): „… von Beginn der Schöpfung an hat Gott sie geschaffen als Mann und Frau“ (Mk 10,6). Dem Schöpferwillen Gottes entspricht die geschlechtliche Differenzierung und zugleich die leiblich-geistige Einheit von Mann und Frau, die sich in der Ehe verwirklichen will. Der vielzitierte Satz: „Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden“ (Mk 10,9), ist nicht als ein Rechtssatz gemeint, der juristisch durchgesetzt werden kann. Er darf auch nicht als eine starre ethische Norm verstanden werden, sondern im Zusammenhang der Botschaft Jesu insgesamt als eine Ermutigung, dem ursprünglichen Willen des Schöpfers hinsichtlich der Verlässlichkeit und Dauer der Ehe zu entsprechen. Aus dem Glauben an Gott ergibt sich die Überzeugung von der Würde jeder menschlichen Person und damit die Bereitschaft zur Vergebung und Verlässlichkeit im gemeinsamen Leben.


Irdische Güter – das Eigentum

Besonders auffällig ist die an die Jünger gerichtete Forderung, in äußerster Bedürfnislosigkeit zu leben (Mk 6,8f; Mt 10,9f; Lk 9,3); darin kommt wahrscheinlich die Situation der von Ort zu Ort ziehenden Missionare zum Ausdruck. Dagegen wird das Eigentum auch im Kreis der Jünger vorausgesetzt, wenn beispielsweise das Haus des Simon und Andreas (Mk 1,29) oder das Haus des Levi (Mk 2,14f.) erwähnt werden. Wiederholt warnt Jesus davor, sich irdische Schätze zu sammeln. Denn es besteht die Gefahr, dass der Mensch sein Herz an sie hängt (vgl. Mt 6,21). „Das Begehren materiellen Reichtums unterwirft das begehrende Subjekt … den mit ihm verbundenen Sachzwängen und entzieht dem Subjekt dadurch die Freiheit der Selbstbestimmung des individuellen bzw. gesellschaftlichen Lebens“ (Alkier 2013, S. 16). Wer nur nach irdischen Gütern strebt, wendet sich von Gott ab. So formuliert Jesus das scharfe Entweder-Oder: „Niemand kann zwei Herren dienen […], ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24).

Wie die Begegnung mit einem reichen jungen Mann zeigt (Mk 10,17-22), hat Jesus im Einzelfall die Hingabe der Güter gefordert. Er hat jedoch grundsätzlich keinen allgemeinen Besitzverzicht verlangt.

In den urchristlichen Gemeinden bestimmt der Glaube an Jesus Christus und die Erwartung des kommenden Reiches Gottes die Stellung zum Eigentum. Die irdischen Güter erkennt Paulus von daher in ihrer Vorläufigkeit an. So dankt er der Gemeinde für eine Gabe, die sie ihm hat zukommen lassen, und betont zugleich: Er ist mit beidem vertraut – Überfluss zu haben und Mangel zu leiden; „ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht“ (Phil 4,13). In der Verbundenheit mit Jesus Christus gewinnt er eine innere Distanz zu den irdischen Gütern und damit die Kraft, die unterschiedlichsten Lebenssituationen zu bestehen. Diese Freiheit gegenüber den Dingen der Welt behält aber zugleich die Mitmenschen im Blick. So wird im Epheserbrief betont, dass mit der Arbeit das nötige Gut geschaffen werden soll, um auch den Bedürftigen abgeben zu können (Eph 4,28). Diese Aussage dürfte für die Praxis des urchristlichen Gemeindelebens wesentlich sein.

In der Apostelgeschichte spricht Lukas darüber hinaus von der Gütergemeinschaft innerhalb der ersten Gemeinde von Jerusalem (Apg 2,44; 4,32-37). Allerdings wird an anderen Stellen vorausgesetzt, dass dies nicht allgemeingültige Praxis war, dass die Christen vielmehr Besitz hatten (Apg 5,1ff; 12,12). Daher nehmen viele Forscher an: Lukas hat in seiner Darstellung Einzelfälle verallgemeinert und so das Idealbild der Gütergemeinschaft in der Urgemeinde gezeichnet. Die Intention des Lukas stellt allerdings nachdrücklich die Frage nach der sozialen Relevanz des Evangeliums und nach einer christlichen Gemeinde, die im Umgang mit dem Eigentum ihre soziale Verantwortung ernst nimmt.


Recht und Grenze politischer Ordnungen

Im Streitgespräch über die Steuer (Mk 12,13-17) antwortet Jesus den Fragestellern: „… gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mk 12,17). Mit diesem prägnanten Satz macht Jesus deutlich: Die Zahlung der vom Kaiser geforderten Steuern ist nicht nur erlaubt, sondern geboten. Die Münze gehört dem Kaiser; das ist nicht zu bestreiten. Weitaus wichtiger aber ist die Einsicht: Der Mensch gehört Gott. Der Mensch als „Bild Gottes“ wird damit in seiner besonderen Würde hervorgeho-ben. Für Menschen, die dieser Bestimmung des Schöpfers zu entsprechen suchen, geht es darum, in der Verbundenheit mit Gott und in der Verantwortung vor ihm zu leben. Die Botschaft vom anbrechenden Reich Gottes bestimmt damit auch das Verständnis der politischen Ordnung. Jesus bestreitet nicht die Macht und das Recht des Staates, vielmehr begrenzt er sie; er macht „erst recht jede religiöse Überhöhung des Staates unmöglich“ (Schrage 1982, S. 114).

Viel diskutiert sind die Aussagen des Paulus im 13. Kapitel des Römerbriefes. Bei ihnen handelt es sich um situationsbezogene Mahnungen, die im Zusammenhang anderer Weisungen für das alltägliche Leben stehen (vgl. Röm 12,9-21; 13,8-10), und mit denen der Apostel überkommene Tradition aufnimmt. Die in der Lutherbibel vorliegende Übersetzung „Obrigkeit“ ist allerdings missverständlich. Das hier gebrauchte Wort (exusia) bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die staatlichen Behörden: „Jedermann soll sich den Behörden, die Gewalt über ihn haben, unterordnen“ (Röm 13,1). Paulus geht davon aus: Die staatliche Gewalt hat die Aufgabe, das Böse zu bestrafen und das Gute zu stärken. Deshalb ruft er die Christen dazu auf, um des Gewissens willen die Anordnungen der staatlichen Behörden zu befolgen. In der Erwartung des kommenden Reiches Gottes gehört der Staat zu den vorläufigen Ordnungen der Welt; „… menschliche Macht als Ordnungsfaktor soll es nach Gottes Willen geben“ (Dochhorn 2013, S. 50f.). In dieser Begrenzung hat der Staat die Aufgabe, für das Recht im Zusammenleben der Menschen zu sorgen; und das ist zweifellos eine Aufgabe, die auch für die Gegenwart wichtig ist. Allerdings sind die Aussagen des Paulus auf eine stark veränderte Situation zu beziehen, vor allem auf die im demokratischen Rechtsstaat gegebenen Möglichkeiten der politischen Mitverantwortung aller Bürger. Für den Fall, dass staatliche Ansprüche mit dem Glauben an Jesus Christus in Widerspruch geraten, hat bereits das Urchristentum einen klaren Maßstab vertreten: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29).


Glaube – Ethik – Menschenwürde

Die ethischen Weisungen in den neutestamentlichen Schriften sind zunächst aus ihrer Zeit zu verstehen. Sie sind jeweils auf eine besondere geschichtliche Situation bezogen und enthalten auch manche zeitbedingte Anschauungen. Zugleich aber haben die ethischen Forderungen des Neuen Testaments durch ihre Begründung in der Reich-Gottes-Botschaft bzw. in der Christusverkündigung ein unverwechselbares Profil und bekommen gerade dadurch eine besondere Bedeutung für die Gegenwart. Ich hebe dazu folgende Aspekte hervor:

  1. Die ethischen Weisungen stellen keine rigoristischen moralischen Vorstellungen auf. Die Ethik ist vielmehr „um des Menschen willen“ da. Die ethischen Forderungen zielen darauf ab, den Menschen als Person zu sehen, ihn in seiner Würde als Geschöpf Gottes zu achten und das Zusammenleben im Geist der Liebe zu gestalten.
  2. Die Ethik im Neuen Testament enthält einen unbedingten Anspruch. Doch dieser Anspruch ist ge-tragen von dem unbedingten Zuspruch des Evangeliums, von der Erfahrung der grenzenlosen Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen. Diese Begründung gibt der christlichen Ethik ihr unverwechselbares Gepräge. In dieser Perspektive erscheint die ethische Forderung in erster Linie nicht als ein (kaum zu erfüllender) Anspruch, sondern als Ermutigung zu einem Tun, das der erfahrenen Liebe Gottes entspricht.


Anmerkungen

  1. Ähnlich W. Härle, Ethik, Berlin/New York 2011, S. 184. Vgl. auch seinen Hinweis, Selbstliebe und Selbstsucht zu unterscheiden. Es ist legitim, sich selbst zu lieben, da „… wir doch Gottes Geschöpfe und Adressaten seiner Liebe sind“ (S. 185).
  2. Vgl. F. Hahn, a.a.O., S. 688: „Christliche Ethik ist eine Ethik der Freiheit.“
  3. Daneben finden sich auch traditionell patriarchalische Auffassungen, z. B. 1. Kor 14,33; 1. Tim 2,11-15.


Literatur

  • Alkier, Stefan: Fruchtbringen oder Gewinnmaximierung? Überlegungen zur Gestaltung des Lebens und Wirtschaftens im Anschluss an das Matthäusevangelium, Zeitschrift für Neues Testament 16/2013.
  • Becker, Jürgen: Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1995.
  • Dochhorn, Jan: Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim?, Zeitschrift für Neues Testament 16/2013
  • Härle, Wilfried: Ethik, Berlin/New York 2011.
  • Hahn, Ferdinand: Theologie des Neuen Testaments, Band II, Tübingen 2002.
  • Lohse, Eduard: Theologische Ethik des Neuen Testaments, Stuttgart u.a. 1988.
  • Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007.
  • Schrage, Wolfgang: Ethik des Neuen Testaments, Grundrisse zum Neuen Testament: Das Neue Testament Deutsch, Ergänzungsreihe, Band 4, Göttingen 1982.
  • Stein, Tine: Die Bergpredigt als das ganz Andere der – modernen – Politik, Zeitschrift für Neues Testament 12/2009.
  • Weder, Hans: Die Rede der Reden. Eine Auslegung der Bergpredigt heute, Zürich 1994, S. 107.