Patchwork-Religion bei Kindern und Jugendlichen zulassen – Pro

von Carsten Gennerich

 

Der Begriff der „Patchwork“-Religion beschreibt einen religiösen Weltzugang, bei dem heterogene Traditionselemente, auch Synkretismen genannt, in je persönlicher Mischung angeeignet werden. Wie ist ihre unbestreitbar weit verbreitete Existenz einzuschätzen? Es lässt sich zeigen, dass sich empirisch beobachtbare Synkretismen sehr oft als direktes Resultat von Versuchen des empathischen Fremdverstehens ausweisen lassen. Immer wenn ich den fremden Anderen versuche zu verstehen, muss ich mich zugleich bemühen, die Weltwahrnehmung des anderen zu rekonstruieren und nachzuempfinden. Das bedeutet, dass die von mir in mich hineingenommenen Teile des Weltzugangs des anderen eben immer auch meine eigene Weltwahrnehmung transformieren. Es kommt gewissermaßen zu einem stillen, meist unbewussten Dialog zwischen meinem Zeichensystem und dem des fremden Anderen. Wenn mir also auch und gerade als Christ am Ethos des Fremdverstehens liegt, dann muss ich die Möglichkeit akzeptieren, dass Ausdrucksgestalten des Glaubens übernommen werden und sich entwickeln können, die zu einem als strikt kohärent gedachten theologischen System in Spannung oder vielleicht sogar in Widerspruch stehend aufgefasst werden könnten.

Die Frage ist, wie solche Widersprüche in einer christlichen Perspektive zu bewerten sind. Im Philipperhymnus (Phil 2) heißt es, dass Christus in der Zuwendung zum Fremden – und das meint: zur Menschheit – an seinem göttlichen Identitätsanspruch ‚sich selbst entäußernd‘ nicht festhielt und Mensch wurde und eben darin die Frage seiner Identität Gott anvertraute. Im Anschluss an dieses Gottvertrauen könnten daher Menschen im Glauben unaufgeregt und gelassen auch solche Ausdrucksformen des Glaubens in der eigenen Person wahrnehmen, die sich vielleicht zunächst als Synkretismus-Elemente identifizieren ließen. Durch „Patchwork“-Elemente muss eine christliche Identität nicht beschädigt werden, sie könnte sogar bewusster werden.

Wenn desweiteren das Evangelium „ewig“ gilt, dann ist es eben nicht in den endlichen, sich kulturell verändernden religiösen Semantiken lebendig. Zweifellos liegt die Funktion religiöser Sprache darin, dass sie uns die Hoffnung auf den Geist Gottes präsent halten soll. Aber kein semantisch vollständig ausformuliertes Gerüst an dogmatischen Formularen vermag im Individuum eine Gefühls- und Verstehenswelt zu bewirken, die eine präzise Abbildung der formulierten Vorstellungsfiguren abgibt. Deshalb lebt „geistlich“ das einzelne Individuum wie auch insgesamt das Christentum darin, dass es auf den Geist Gottes hofft.

Zum Beispiel: In der Entstehungszeit der christlichen Gemeinden sah man, dass in anderen Gemeinden auch andere Dinge gelehrt wurden, die man mit der eigenen Glaubenseinsicht als eigentlich unvereinbar ansah. Die Hoffnung, dass es doch ein Geist sei, der in verschiedenen Kontexten mit unterschiedlichen Worten denselben Christusglauben bewirke (Apg 15,8), erfuhr man in dieser Situation als Lösung.

Derselbe Glaube an die Einheit des Geistes könnte auch heute eine Freiheit gewähren, unterschiedliche konkretisierende Formulierungen des Glaubens zu erproben und gelassen auf die Vielgestaltigkeit der Wortwelten zu blicken. Wenn ich also bereit bin, mich auf die religiöse Wortwelt auch aus einer anderen Glaubenskultur einzulassen, dann könnte ich gerade darin versuchen, in Freiheit dem Geist Gottes nachzuspüren.

Zweifellos kann in manchen Situationen die Konzentration auf genau einen, bestimmt abgegrenzten Traditionsbestand das Individuum stützen und stärken. Ebenso aber kann diese Geschlossenheit in einer neuen Situation das Individuum überfordern, neue lebensdienliche Deutungen zu entwickeln. Legt man da, mit Luther, das Gewicht auf das „pro me“ der Lebensdeutungsfunktion des Glaubens, kann es hilfreich sein, dass in den heute immer schneller wechselnden Lebenskontexten die Aneignung von sich verändernden Ausdrucksgestalten des Glaubens möglich wird – solange sie ihren Grund finden in der Hoffnung auf den einen Geist Gottes, von dem wir glauben wollen, dass er weht wo und wie er will.

Religiöse Ausdrucksgestalten fremder Religionskulturen pflegen immer erst einmal als synkretistisch identifiziert zu werden. Leicht wecken sie die Furcht vor einem „patchwork“, das mehr verwirrt als stabilisiert. Aber jener Geist Gottes, auf den wir in Christus hoffen, gibt allemal den Kompass ab, dem zu folgen wir uns mit Hilfe vielfältiger Ausdrucksgestalten bemühen. Auf die Bewusstmachung des Verhältnisses zwischen diesem Kompass und den ihm gemäßen religiösen Ausdrucksgestalten kommt es also an, nicht auf den Versuch, „patchwork“ grundsätzlich zu bekämpfen.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2012

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