Schlüssel, Impulse, Themenkreise - Aspekte einer zeitgemäßen Bibeldidaktik

von Peter Müller

 

Herausforderung einer Bibeldidaktik

Für eine große Zahl von Heranwachsenden ist die Bibel sozusagen „Niemandsland“. Verschiedenen Umfragen zufolge ist es nicht so, dass die Bibel von ihnen grundsätzlich abgelehnt würde. Aber die berechtigte Frage „Was bringt es mir, in der Bibel zu lesen?“ wird offenbar von vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen so beantwortet, dass es für sie selbst derzeit wenig oder nichts bringt. Und wenn dies so ist, kann man auch Geschichten, die man einmal kannte, wieder vergessen. Niemandsland aber kann bedeutungslos sein oder Bedeutung gewinnen und sich zur Relevanz hin öffnen. Für die Bibeldidaktik ergibt sich daraus die Frage, wie die Bibel für junge Menschen Bedeutung gewinnen kann.

Eine Bibeldidaktik muss in der Gegenwart „offen“ formuliert werden. D.h., sie muss offen sein für die Wichtigkeiten und Fragen von Schüler/innen, aber auch offen für den Diskurs in den Bezugswissenschaften und in der Gesellschaft.1 Offenheit ist nicht gleichzusetzen mit dem Aufgeben von Standpunkten. Es geht vielmehr um die Suche nach Anschlussmöglichkeiten in verschiedene Richtungen. Ist unsere Beschäftigung mit der Bibel anschlussfähig an die Problemstellungen von jungen Menschen, an gesellschaftliche Entwicklungen und an den wissenschaftlichen Diskurs? Die Frage nach der Anschlussfähigkeit schließt den Eigenwert der biblischen Tradition aber nicht aus. Es war bekanntlich ein Mangel des problemorientierten Religionsunterrichts, dass er die Bibel im Wesentlichen dann befragte, wenn es sich von tatsächlichen oder vermeintlichen aktuellen Fragestellungen her so ergab. Eine offene Bibeldidaktik muss insbesondere deshalb den Eigenwert der Bibel thematisieren als auch von den Problemstellungen der Rezipienten her formulierbar sein.

 

Verschiedene Lösungswege

Im Lauf der religionspädagogischen Konzeptionsdebatte hat es sehr unterschiedliche Bewertungen der Rolle der Bibel im Religionsunterricht gegeben. Ich gehe darauf hier nicht näher ein, sondern greife nur einige aktuelle bibeldidaktische Lösungsversuche heraus. Dabei unterscheide ich zwischen dem Weg der Systematisierung, dem Versuch, Sinnlinien herauszuarbeiten, und dem Weg der Reduktion.

 

Grundbescheide und Grundmotive

Horst Klaus Berg und Gerd Theißen haben in ihren bibeldidaktischen Entwürfen Grundbescheide bzw. Grundmotive benannt, die die Vielfalt der biblischen Tradition handhabbar machen sollen.

Horst Klaus Berg sucht in seinem bibeldidaktischen Entwurf nach Grundbescheiden oder „heilsgeschichtlichen Abbreviaturen“, in denen grundlegende Aussagen der biblischen Tradition konzentriert sind (z. B. der Satz „Gott schafft Leben“, Berg 32003, 76f.). Sie stellen zugleich eine Art Container für vergleichbare Aussagen dar. Es dürfte sinnvoll sein, schreibt Berg, „sich für jeden Grundbescheid einen Text-Pool anzulegen“ (ebd.135ff.), also eine intentionale Textsammlung, die an einen Grundbescheid angegliedert ist. Die Grundbescheide selbst dienen dazu, die biblische Tradition nach inhaltlichen Kriterien zu systematisieren2, Sinnlinien zu erkennen und die Komplexität der Überlieferung für den unterrichtlichen Gebrauch handhabbar zu machen. Bei den Grundbescheiden handelt es sich um elementare Verdichtungen von Glaubenserfahrungen und -traditionen (Berg 32003, 76), die heilsgeschichtliche Erinnerungen zusammenfassen und bestimmte Funktionen wahrnehmen (z. B. den Protest gegen die übermächtigen babylonischen Götter). Sie haben weniger lehrhaften als tröstenden und ermutigenden Charakter. Neben „Gott schenkt Leben“ nennt Berg die folgenden Grundbescheide:

  • Gott stiftet Gemeinschaft (Liebe, Partnerschaft, Bund, Ökumene),
  • Gott leidet mit und an seinem Volk (Leiden und Leidenschaft),
  • Gott befreit die Unterdrückten (Befreiung),
  • Gott gibt seinen Geist (Heiliger Geist und Begeisterung),
  • Gott herrscht in Ewigkeit (Gottesherrschaft, Schalom) (ebd. 78-87).

Das Wort „Bescheid“ ist hierfür allerdings wenig geeignet. Unter Bescheid versteht man eine eher autoritative Auskunft, mit der man in der Regel weder „gefährliche Erinnerungen“ noch den Wunsch nach Veränderung und Neuem assoziiert. „Gott schenkt Leben“ ist weniger Bescheid als vielmehr Dank, Versprechen und Zusage. Den Begriff der Heilsgeschichte damit zu verbinden ist ebenfalls problematisch. Er bezeichnet eine systematische Struktur, die allenfalls teilweise aus den Texten selbst erhoben wird. Sie ist aus der Perspektive des biblischen Kanons gewonnen, die den Einzeltexten oft nicht angemessen ist. Intentionale Textsammlungen und die Suche nach Sinnlinien sind im Prinzip sinnvoll. Ihre Zuordnung zu sechs Grundbescheiden fördert aber sowohl ein Verständnis von Bibeltexten im Sinne kleiner, mehr oder weniger abgeschlossener Einheiten als auch den Eindruck von Handhabbarkeit und abrufbarem Wissen. „Gefährliche Erinnerungen“ lassen sich nicht so leicht kategorisieren. Und problematisch ist auch, dass die Grundbescheide durchgängig als Gottesaussagen formuliert und christologisch defizitär sind.

Theißen fragt nach dem Fundamentalen und Elementaren in der Bibel. Er versteht die biblische Religion als Zeichensprache, die wie jede andere Sprache ihre eigene „Grammatik“ hat (Theißen 2003, 122). Die grammatischen Grundregeln sind nach Theißen die Grundmotive der Bibel – und zugleich ihr Geist (ebd. 132). Dieser Geist erschließt „den Menschen für das Fundamentale in der Bibel, für Gott, und er erschließt den Text der Bibel für den Menschen“ (ebd. 123). Für die ganze Bibel grundlegend sind die beiden Grundaxiome des christlichen Glaubens, der Monotheismus und der Glaube an einen Erlöser“ (ebd. 133). Sie werden in 14 Grundmotiven aufgeschlüsselt. Die Liste der Grundmotive stellt nach Theißen ein „loses Regelgefüge“ dar, „mit Überschneidungen und Berührungen, einem Mobile vergleichbar, das immer in Bewegung ist und jedoch eine verborgene Struktur enthält“ (ebd. 139).3 In diesen Grundaxiomen und Grundmotiven „begegnen wir dem ‚Geist’ der Bibel. Alle Grundmotive sind mit Christus verbunden und begegnen nicht nur bei einem biblischen Thema, sondern strukturieren verschiedene Inhalte. Sie sind nach Theißen formaler, aber auch grundlegender als die traditionellen dogmatischen Topoi. Mit ihrer Hilfe lässt sich der ‚Geist der Bibel’ beschreiben.

Nun gibt es zweifellos Motive in der Bibel, die wiederholt vorkommen und sich in verschiedenen Textzusammenhängen konkretisieren. Indem sie sich aber konkretisieren, gehen sie in die Verschiedenheit der Einzeltexte ein und entfalten dort jeweils eigene Aussageabsichten. Von einem Grundmotiv ohne die dazu gehörenden Konkretisierungen und Akzentsetzungen zu sprechen stellt eine Abstraktion dar, die den Texten nicht mehr angemessen ist. Und für gewagt halte ich die Verknüpfung des Fundamentalen und Elementaren in der biblischen Grammatik mit dem „Geist der Bibel“. Die Begriffe Grammatik und Geist sind nicht wirklich kompatibel; sie reiben sich und verweisen auf ein grundlegendes sachliches Problem. Wenn die Grundmotive darlegen, woraufhin man Texte auszulegen und zu bearbeiten hat, dann stellen sie ein hermeneutisches Prinzip mit grundlegender Geltung dar. „Nicht in bestimmten Inhalten und Texten, sondern in Grundmotiven, die sich in, mit und unter den Texten erschließen, finden sich jene ‚Lerninhalte’, die christliche Identität ausmachen und dialogfähig machen“ (ebd. 115). Der Text wird damit nicht als solcher wahrgenommen, sondern als Konkretion eines Grundmotivs, das Theißen auf Grund seiner exegetischen Kompetenz herausarbeitet. Der autoritäre Grundzug, den Theißen z. T. in anderen bibeldidaktischen Entwürfen moniert, liegt hier nicht fern.

Ich stelle deshalb im Zusammenhang einer Bibeldidaktik kein System grundlegender Motive auf. Natürlich muss es im Bibelunterricht immer auch um wichtige biblische Themen und Fragestellungen gehen. Würde eine Bibeldidaktik nur Nebensächliches in der Bibel thematisieren trüge sie ihren Namen zu Unrecht. Wichtige Aussagen in der vielfältigen biblischen Überlieferung zu identifizieren ist eine Aufgabe der Exegese.

Auf der anderen Seite ist aber auch die Didaktik zu berücksichtigen – und sie ist mehr und anderes als Vermittlung. So wie es auf Seiten der Bibel wichtige Fragen, Themen und Aussagen gibt, gibt es auf Seiten der Schülerinnen und Schüler und deren Kontexten wichtige Fragen, Probleme, Aussagen und Lernvoraussetzungen. Didaktik berücksichtigt beides und bringt beide Seiten in ein Verhältnis zueinander – und zwar von Anfang an. Eben dies habe ich mit dem Begriff der Anschlussfähigkeit zu umschreiben versucht.

 

Sinnlinien

Einen anderen Ansatz wählen einige Autoren, die sich in den „Katechetischen Blättern“ (131/2006) im Jahr 2006 zu Wort gemeldet haben. Sie verwenden den „roten Faden“ bzw. die „roten Fäden“ als Metapher für das, was man als das „der Bibel Eigene“ bezeichnen könnte (Dohmen/Hieke 2006, 245). Es handelt sich nach Auffassung der hier zu Wort kommenden Autoren bei den roten Fäden nicht um dogmatische Vorgaben oder um Vorlieben für bestimmte Themen; die Dogmatik und die eigenen theologischen Vorlieben liegen ja in der Tat manchmal nicht weit auseinander. Vielmehr dürfe man solche roten Fäden nur „aus der Bibel selbst heraus entwickeln und formulieren“ (ebd.). Es gehe nicht um eine Hierarchie von Wahrheiten, nicht um das, „was in der Bibel wirklich wichtig ist“, auch nicht „um kurze und knappe essentials aus der Fülle der biblischen Botschaft“ (ebd.). Diese Abgrenzungen sind, obwohl Berg und Theißen als Bezugspunkte genannt werden, doch im Grunde gegen deren Ansatz gerichtet. Die roten Fäden der Bibel führen gleichwohl zum Wesentlichen, „denn das, was Menschen durch Jahrhunderte hindurch immer wieder in ihrem Verhältnis mit Gott beschäftigt hat, in Not und Freude, mit Klage und Lob, ist immer wieder aufgegriffen worden und bestimmt die biblische Botschaft. Wer also rote Fäden in der Bibel sucht, wird sich selbst immer wieder in Frage stellen müssen – vor allem was seine eigenen Wünsche und Erwartungen in Bezug auf diese Texte betrifft. Aber wer rote Fäden in der Bibel sucht, wird hineingenommen in die lange Glaubensgeschichte, von der die Bibel zeugt und für die die Bibel steht. … Erfahrbar und begreifbar aber wird es nur, wenn man sich selbst auf den Weg macht quer durch die Bibel“ (ebd.).

Verschiedene Exegeten stellen dann dar, was für sie der rote Faden durch die Bibel ist: „Vom Paradies zum himmlischen Jerusalem“ führt er nach Thomas Söding (Knauf 2006, 249); für Ilse Müllner ist das Stichwort „Beziehung“ der rote Faden (ebd. 250); in den Bildern, die die Texte aufscheinen lassen, ist er nach Thomas Staubli zu finden (ebd. 252); für Axel Knauf in den Wegen der Tora (ebd. 252f.)4; Marlies Gielen sieht den roten Faden in der Zuneigung und Nähe Gottes zu den Menschen (ebd. 253f.). Dass diese verschiedenen roten Fäden die Texte nicht reglementieren und die Bibel nicht systematisch kartografieren wollen, macht mir die Metapher sympathisch. Gleichwohl kann man nicht übersehen, dass sie selbst von ihrem Ursprung her auf das Labyrinth und auf den einen Weg verweist, der hindurch führt. Ist die Bibel ein solches verschlungenes System, das den Weg hinein oder heraus zu einem Rätsel macht? Was macht man, wenn man den Faden einmal verliert? Und gibt es nur diesen einen Weg? Die zitierten Autoren sind offenbar nicht dieser Meinung – und ich stimme ihnen zu. Aber dann ist das Bild vom „roten Faden“ schief, so gut es mir gefällt. Allenfalls im Plural ist es verwendbar. Und ganz ungeklärt ist bislang die Frage, wie mit Hilfe solcher roter Fäden konkreter Unterricht gestaltet werden soll.

 

Reduktionen

Im gleichen Heft der Katechetischen Blätter fragt Elisabeth Hennecke: „Angesichts eines nur noch geringen Vorwissens und vieler Wissenslücken im Blick auf die Bibel stellt sich immer wieder die Frage: „Mit wie wenig kann ich mich zufrieden geben?“(Hennecke 2006, 238). Typisch für diese reduktionistische Frage ist m. E. der Vorschlag in dem „Leuchtfeuerpapier“ der EKD, im Blick auf die religiöse Bildungsarbeit der Kirche „die Kernbestände der christlichen Tradition zu sichern“. „Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit“ lautet die hierfür grundlegende Basisannahme. Deshalb wird für die religiöse Bildungsarbeit in Kindertageseinrichtungen, Kinder- und Jugendarbeit sowie Konfirmandenarbeit vorgeschlagen, sich „über die zwölf wichtigsten biblischen Geschichten, die zwölf wichtigsten evangelischen Lieder und die zwölf wichtigsten Gebete zu verständigen (EKD-Impulspapier 2006). Im Blick auf die pädagogische Arbeit im Vorschulbereich wird allerdings gefordert: „90 Prozent aller Kinder eines Jahrganges sollten im Laufe ihrer ersten sechs Lebensjahre mit biblischen Geschichten und christlichen Symbolen, mit christlichen Festen und kirchlichen Traditionen sowie ihren modernen Vermittlungsformen in Berührung kommen“ (EKD 2006, 80). Nach der Kindergartenzeit scheint es aber irgendwie schwierig zu werden, wenn man sich und den Kindern und Jugendlichen nicht mehr als zwölf Geschichten zutraut und zumutet. Einmal davon abgesehen, dass es schwierig sein dürfte, sich auf zwölf Geschichten (und nicht minder auf zwölf Lieder und zwölf Gebete) zu einigen: Dass es gerade zwölf Geschichten sein sollen, zeigt ja, dass die Verfasser des Papiers in Aufnahme der wichtigen biblischen Zahl eine sehr wohl umfassende Perspektive haben und mit diesen zwölf Texten zentrale Teile der biblischen Tradition abdecken wollen.

 

Schlüssel, Impulse, Themenkreise

Ich spreche im Folgenden von biblischen Schlüsseln und Impulsen. Beide Begriffe sind metaphorisch zu verstehen. Schon als Metaphern geben sie keine Definition, sondern öffnen einen Raum und setzen einen Prozess in Gang. Der Begriff des Schlüssels ist dabei stärker von den Schülerinnen und Schülern her gedacht, der Impuls stärker von den Texten.

Schlüsseltexte sind nach diesem Verständnis also nicht in erster Linie grundlegende Texte der biblischen Tradition, die ich mit exegetischen Mitteln identifiziere und dann der religionsunterrichtlichen Vermittlung übergebe. Ich verstehe unter Schlüsseltexten vielmehr solche Texte, die geeignet sind, den Schülerinnen und Schülern die Bibel erst einmal aufzuschließen. Denn dazu sind Schlüssel da: Sie schließen etwas auf, was verschlossen war, sie eröffnen Zugänge. Da für viele Schülerinnen und Schüler die Bibel ein „Buch mit sieben Siegeln“ ist, brauchen sie solche Schlüssel, um sich Zugänge zu diesem Buch überhaupt erst einmal oder wieder zu verschaffen. Dies ist für mich ein erstes, wichtiges Ziel bibeldidaktischer Bemühungen.

Dabei soll der Begriff des Schlüssels nicht zu eng gefasst werden. Solche Schlüssel können:

  • Schlüsseltexte (z.B. Gen 1,1-2,4a, Mt 5,3-12, 1Kor 13…) sein, aber auch
  • Schlüsselworte und -begriffe (z. B. Paradies, Gerechtigkeit, Hoffnung, Gnade, Himmel …),
  • Schlüsselbilder (z. B. Hirte, Baum, Weg, Brot …) oder
  • Schlüsselszenen (z. B. 2Sam 12; Mt 4,1-11 …).

Schlüssel haben die Funktion, Türen zu öffnen – und damit einen Raum, den man dann erkunden kann. Wichtig ist bei der Suche nach so verstandenen Schlüsseltexten, dass:

  • sie Interesse zu wecken in der Lage sind (weil sie spannend, provozierend, tröstend, überraschend oder in schöner Sprache formuliert sind),
  • dass sie anschlussfähig sind an die Verstehensvoraussetzungen der Rezipienten
  • und dass von ihnen aus innerbiblisch in verschiedene Richtungen weiter gefragt werden kann.

Mit diesem letzten Aspekt kommen die Impulse ins Spiel. Gegenüber dem Bescheid, dem Grundmotiv und dem Axiom hat der Ausdruck „Impuls“ den Vorteil, dass er nicht vorgängig festlegt, was in der Bibel wichtig ist und was dementsprechend für die Schülerinnen und Schüler (und die Lehrkräfte) wichtig werden soll. Impuls ist ein dynamischer Begriff. Er stößt etwas an, das wichtig werden und Zusammenhänge erkennen lassen kann. Er schreibt nicht vor, wie diese Zusammenhänge zu ordnen sind. Er regt aber dazu an, nach ihnen zu suchen. Insofern zielt ein Impuls auf das Fragen, das Entdecken, auf eine elementare Suchbewegung, auf einen Prozess. Wie diese Suche voran schreitet wird durch den Impuls nicht von vornherein festgelegt. Sie ist in verschiedene Richtungen möglich, bleibt aber angestoßen von den Texten und ist dadurch an sie gebunden.

So können die beiden genannten Beispiele für Schlüsselszenen, also die Konfrontation zwischen David und Nathan in 2Sam 12 oder die Versuchungsgeschichte in Mt 4, verschiedene Impulse für die weitere Beschäftigung mit der Bibel geben. Von der Nathanepisode aus kann man natürlich nach der vorangehenden Uria-Geschichte fragen oder nach dem weiteren Ergehen Davids; man kann nach dem Verhältnis von Propheten und Königen generell fragen, nach dem Verständnis der Prophetie und ihrem Verhältnis zur Macht oder auch danach, wie und wo der Satz „Du bist der Mann“ übertragbar ist in eigene Erfahrungen.

Von der Versuchungsgeschichte ausgehend kann man dem Begriff Versuchung in der Bibel und in unserer Gegenwart weiter nachforschen, man kann einen Bogen schlagen zum Vater unser oder die Erzählung mit der anderen Berg-Geschichte am Ende des Matthäusevangeliums (28,16-20) verknüpfen; man kann auch nachsehen, wo die Zitate in der Erzählung herkommen, vielleicht vor allem dies, dass der Mensch „nicht vom Brot allein lebt“, das sowohl in der Bibel als auch z. B. in der Werbung mehrfach vorkommt, und man kann die Frage anschließen, wovon wir denn dann leben, wenn nicht allein vom Brot. Biblische Impulse beziehen sich also darauf, dass Texte Fragen anstoßen, uns auf die Suche schicken und uns dabei nicht reglementieren.

Wenn man diesen Impulsen folgt, erschließen sich biblische Themenkreise. Berg und Theißen haben gezeigt, dass sich in der biblischen Tradition verschiedene Themen und Motive unterscheiden lassen. In dieser Hinsicht stimme ich ihren bibeldidaktischen Entwürfen zu, setze aber einen anderen Akzent. Ich spreche nicht von Grundbescheiden, -motiven oder -axiomen, sondern von Themenkreisen. Damit nehme ich die Erkenntnis auf, dass die Grundmotive in der biblischen Überlieferung nie isoliert und für sich stehen. Darauf macht Theißen selbst z. B. bei dem „Positionswechselmotiv“ aufmerksam: Es kann sowohl im Geschichtshandeln Gottes (vgl. 1Sam 2,6f.; Lk 1,52) als auch im Rahmen ethischer Mahnungen (vgl. Mk 10,42ff.; Phil 2,6ff.) oder der Eschatologie (Mk 10,31.35ff.) begegnen (Theißen 2003, 161f.). Vergleichbares gilt auch von den anderen Motiven. Das Schöpfungsmotiv kann als Lob und Dank laut werden (Ps 66,3; 139,14), es kann weisheitlich formuliert sein (Spr 3,19), aber auch ethische Mahnungen begründen (vgl. Mt 5,45) und hat seinerseits eine Beziehung zur Eschatologie (2Kor 5,17; Offb 21,1). Das Wundermotiv wiederum kann mit Schöpfungsaussagen kombiniert werden (Hi 37,5; Ps 66,5), es steht besonders im Neuen Testament in eschatologischem Horizont (Lk 11,20), es kann indirekt aber auch als Handlungsanweisung dienen (Mt 8,23-27; Mk 7,24-30). Um mit den Fachbegriffen zu sprechen: In einem Textzusammenhang aus den Evangelien oder bei Paulus die Christologie, die Soteriologie und die Eschatologie (um nur einmal diese drei Bereiche zu nennen) voneinander abzugrenzen ist nur selten möglich, weil die jeweiligen Aussagen ineinander greifen und sich gegenseitig bedingen. Das bedeutet: Die einzelnen Motive sind im Alten und Neuen Testament eingebettet in gedankliche Zusammenhänge. Sie daraus zu isolieren stellt eine Abstraktion dar und erfordert didaktisch immer einen doppelten Schritt: Die Isolierung eines Motivs und das Bemühen, dieses Motiv dann in ähnlich gestalteten Zusammenhängen wiederzufinden. Dies stellt zugleich eine Reduktion der Einzeltexte dar, die ja eine Aussageabsicht haben und nicht lediglich ein Motiv vorstellen. Ich vertrete demgegenüber die Auffassung, dass es angemessener ist, auf die Texte und die Verbindungslinien zu achten, die sie selbst aufzeigen. Es geht also nicht darum, Motive zu isolieren, sondern Zusammenhänge zu erkennen.

Von den meisten Texten aus kann man in verschiedene Richtungen gehen. Es gibt viele Verstehenswege durch die Bibel. Manche sind gut ausgeschildert, andere kaum entdeckt; aber alle helfen dazu, die Fülle der biblischen Botschaft zu erschließen. Nach Themenkreisen und Verbindungslinien zu suchen legt sich durch die Eigenheit der Texte nahe. Ich finde in der Bibel vor allem vier Themenkreise, die aufeinander bezogen sind und wie ein Gewebe miteinander verflochten sind: Von Gott und der Welt ist in der Bibel immer in einem Atemzug die Rede; auch die Frage „was ist der Mensch?“ wird immer in Verbindung mit Gott beantwortet; Glauben, Handeln und Hoffen entstehen aus der Beziehung zu Gott als grundlegende Äußerungen des Menschen; und das Neue Testament geht in allen Schriften davon aus, dass die Welt und der Mensch mit seinem Glauben, Handeln und Hoffen nur von Jesus Christus her zu begreifen sind.

 

Gott hat einen Namen

An einem Schlüsseltext aus dem Alten Testament will ich diesen Zusammenhang abschließend darstellen. Es ist eine ungewöhnliche Erzählung, vom Erzählfaden her attraktiv, vom zentralen Inhalt her anspruchsvoll und zugleich eine Erzählung, die einen Weg in die Bibel öffnen kann: Gott hat einen Namen. Das ist für das Alte Testament eine zentrale Aussage. Sie beruht auf dem für das Gottesverständnis grundlegenden Text Ex 3, der Erzählung von der Berufung des Mose am brennenden Dornbusch. Aus diesem Grund beginnen Erfahrung und Erkenntnis Gottes in der Bibel mit einem Namen. Und aus eben diesem Grund kann in den alttestamentlichen Schriften „der Name“ zum Synonym für Gott werden.5 Der Name wird verkündigt (Ex 9,16), gepriesen (Ps 103,1) und gefürchtet (86,11), mit dem Namen werden die Israeliten gesegnet (Num 6,27), Salomo soll „dem Namen ein Haus bauen“ (2Sam 7,13). Häufig steht der Name für Gott selbst. So ist der Name Gottes Hinweis auf eine paradoxe Erfahrung: Gott ist der, der da ist, er ist wahrnehmbar und ansprechbar, aber er ist nicht „der Fall“ und lässt sich nicht endgültig definieren. In der Erzählung von der Berufung des Mose entspricht diese Erfahrung dem Dornbusch, der brennt und doch nicht verbrennt. Und wichtig ist auch: Im Kontext dieser Erzählung wird der Name in Zusammenhang gebracht mit der Geschichte des Volkes Israel (Ex 3,9-14): Der „ich werde da sein“ ist kein weltabgewandter Gott, sondern einer, der das Leiden seines Volkes wahrnimmt und Befreiung schaffen wird.

Diese Zuwendung des „Ich werde da sein“ kommt auf der Seite der Menschen in vielen ihrer Namen zum Ausdruck – in der Bibel und bis heute –, in denen sich der Name Gottes widerspiegelt. Neben vielen anderen Namen, z. B. Elia – elija(hu): mein Gott ist JHWH, oder Netanja(hu): Gegeben hat JHWH –, findet sich der Gottesname nicht zuletzt in Jehoschua / Jeschua / Jesus wieder – JHWH ist Rettung. Jehoschua und Jesus, das ist ein Namensprogramm, das im NT bei Matthäus ausdrücklich aufgegriffen und ausgeführt wird (Mt 1,18-25). Und dass so viele Eigennamen bis heute Gott im Namen führen, oft für ihre Träger unbewusst, verbindet das eigene Erleben mit dem Gott des Alten und des Neuen Testaments.

Dass Gott einen Namen hat, mit dem er sich bekannt macht und mit dem Menschen sich an ihn wenden können, wird in einer Geschichte erzählt, die grundlegend für die biblische Botschaft ist, die auf Grund heutiger Erfahrungen und Fragen auch zu einem Schlüssel für die Bibel werden kann. Denn die Frage nach dem Namen Gottes ist eine aktuelle Frage. Exemplarisch dafür ist Joan Osbornes Lied „One of us“:

If God had a name,
what would it be
and would you call it to His face,
if you were faced with Him
in all his glory?
What would you ask
if you had just one question?

Trotz des im Refrain vielfach wiederholten „God is great, God is good“ ist die offene Frage für diesen Song charakteristisch. Wenn Gott einen Namen hätte, wie würde er lauten und könnte man ihm den ins Gesicht rufen? Wenn man ihm eine einzige Frage stellen könnte, welche wäre das? Und was wäre, wenn Gott einer von uns wäre, ein ganz normaler Mensch, ein Fremder im Bus? Und wenn Gott ein Gesicht hätte, wie würde er wohl aussehen – und würde man es ansehen wollen, wenn damit gleichzeitig der Glaube gefordert wäre an den Himmel, an Jesus, an die Heiligen und Propheten?6 Die letzte Frage zeigt die Distanz zu herkömmlichen Gottesvorstellungen. Die Frage des „What if“, des „Was wäre, wenn“ ist charakteristisch für das Lied. Ist Gott groß und gut? Begegnet er uns in aller Pracht, umgeben von Heiligen und Propheten, oder ist er einer von uns, unscheinbar und leicht zu übersehen? Das Lied gibt keine Antworten außer „God is great, God is good“. Die Kombination dieses Refrains mit den What-if-Fragen ist charakteristisch für die aktuelle Gottesrede. Sie verknüpft ein erstaunlich unbefangenes Reden von Gott mit offenen Fragen und einer nicht zu übersehenden Distanziertheit gegenüber herkömmlichen Gottesvorstellungen.

Dass Gott groß und gut, mächtig oder gütig sei, ist keine objektivierende Aussage, sondern – selbst in der Gebrochenheit des Popsongs – eine Aussage der Beziehung. Ob Gott gut oder groß ist, lässt sich nicht per definitionem entscheiden. Auf derselben Linie liegt die Frage, ob es Gott „wirklich“ gibt. Dietrich Bonhoeffer hat diese Frage bekanntlich beantwortet mit dem paradoxen Satz: „Einen Gott, den ‚es gibt’, gibt es nicht.“ Über alles, was „es gibt“, können Menschen verfügen, und sei es auch nur in Gedanken. „Gäbe es gültige Antworten, wäre die Frage nach dem Anfang und dem Ende der Welt durch Wissen zu erledigen“ (Oelkers 1994, 19). Aber Gott ist nicht vorfindlich und feststellbar und verfügbar. Die Selbstvorstellung „Ich werde da sein, als der ich da sein werde“ in Ex 3,14 ist das Urbild dieser Unverfügbarkeit Gottes. Die Frage, ob es Gott „wirklich“ gibt, ist dennoch nicht unwichtig. Sie belegt einen offenbar vorhandenen Wunsch nach Sicherheit und Verlässlichkeit in der Frage nach Gott und verweist zugleich darauf, dass der Hinweis auf die Wirklichkeit im Sinne dessen, was „es gibt“, nicht ausreicht, wenn es um Gott geht.

„Ich werde da sein als der ich da sein werde“ kann deshalb zum Impuls werden, diesem Namen Gottes nachzuforschen, z. B. über die Wolken- und Feuersäule oder die Gottesbegegnung des Elia bis hin zum Satz Jesu: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“. Für den „Ich bin da, als der ich da sein werde“ kann man auch Schlüsselbilder finden, das Bild des Hirten z. B., das im Alten wie im Neuen Testament eine Rolle spielt, des Lichtes, des Weges. Man kann die Geschichte der eigenen Namen verfolgen oder das „taufen auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Namen sind eben nicht nur Schall und Rauch, sondern können zum Schlüssel werden, um die Bibel aufzuschließen und sie zu erschließen.

 

Anmerkungen

  1. Diese Offenheit in ihren verschiedenen Dimensionen hat Theißen in seiner Bibeldidaktik vorgestellt. (Vgl. Theißen 2003)
  2. Die Bezeichnung „heilsgeschichtliche Abbreviaturen“ zeigt den starken systematischen Akzent: Die Vorstellung der Heilsgeschichte stellt den Versuch dar, die Komplexität der biblischen Tradition zu reduzieren und ihre großen Linien hervorzuheben. Zur Heilsgeschichte als Gliederungsprinzip der Dogmatik vgl. Härle 2007, 42.
  3. Als Grundmotive werden genannt (Theißen 2003, 139-165): das Schöpfungsmotiv, das Weisheitsmotiv, das Wundermotiv, das Entfremdungsmotiv, das Hoffnungsmotiv, das Umkehrmotiv, das Exodusmotiv, das Stellvertretungsmotiv, das Einwohnungsmotiv, das Glaubensmotiv, das Agapemotiv, das Positionswechselmotiv, das Gerichtsmotiv, das Rechtfertigungsmotiv.
  4. Knauf spricht allerdings nur vom AT. Das NT ist für ihn lediglich ein Annex zum AT (253f.).
  5. Seit der Zeit des babylonischen Exils (586-538 v. Chr.) wurde JHWH nicht mehr ausgesprochen, sondern durch adonaj – (mein) Herr ersetzt. Buber / Rosenzweig schreiben an Stelle des Tetragramms „Er“ (vgl. Buber 1992).
  6. Der gesamte Text unter http://www.lyrics007.com/Joan%20Osbor ne%20Lyrics/One%20Of%20Us%20Lyrics.html .

 

Literatur

  • Berg, Horst Klaus (32003), Grundriss der Bibeldidaktik: Konzepte – Modelle – Methoden. Handbuch des biblischen Unterrichts Band 2, München.
  • Buber, Martin / Rosenzweig, Franz (1992), Die Schrift (4 Bände), Stuttgart
  • Dohmen, Christoph / Hieke, Thomas (2006), „Roter Faden durch die Bibel?“ In: Katechetische Blätter (131/2006), 242-248.
  • EKD-Impulspapier vom 6. Juli 2006, „Kirche der Freiheit: Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert.“
  • Härle, Wilfried (32007), Dogmatik, de Gruyter Lehrbücher, Berlin.
  • Hennecke, Elisabeth (2006), „Die Bibel – das Buch der unbekannten Geschichten.“ In: Katechetische Blätter (131/2006), 238-241.
  • Katechetische Blätter (131/2006), Zeitschrift für Religionsunterricht, Gemeinde-Katechese und kirchliche Jugendarbeit. Hg. von dkv und Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, München.
  • Knauf, Axel / Gielen, Marlis / Müllner, Ilse u.a. (2006), „Eine Frage – fünf Antworten: Mein roter Faden durch die Bibel.“ In: Katechetische Blätter (131/2006), 249-254.
  • Oelkers, Jürgen (1994), „Die Frage nach Gott. Über die natürliche Religion von Kindern“. In: Merz, V. (Hg.), Alter Gott für neue Kinder? Das traditionelle Gottesbild und die nachwachsende Generation, Freiburg (Schweiz), 13-22.
  • Theißen, Gerd (2003), Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2011

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