Christliche Friedenspädagogik - Vertrauende, angstfreie Beziehungen, gewaltlose Handlungsalternativen und Feindesliebe als Kernfaktoren einer christlichen Friedenspädagogik

von Karl Ernst Nipkow

 

Der jüdisch-christlichen Überlieferung verdanken wir nicht nur allgemeine Visionen des Friedens, sondern auch konkrete Anweisungen zum Frieden stiftenden Verhalten. Friede und Versöhnung sind außerdem nicht nur Gegenstand der Verheißung und Hoffnung in einem zukünftigen Reich Gottes, sondern verpflichtende Aufgaben in der Gegenwart. Im Neuen Testament bezeugt und lebt Jesus von Nazareth Gottes Friedenswillen im Alltag seiner Zeit. Die christlichen Kirchen haben diese Praxis fortzusetzen.  

Im Folgenden möchte ich moderne wissenschaftliche Befunde zum Umgang mit Vergeltungswünschen, Rachegefühlen, Aggressionen, Gewalt und biblische Zeugnisse aufeinander beziehen. In diesem Sinne stütze ich mich auf das lern- und verhaltenstheoretisch ausgerichtete Standardwerk von Franz und Ulrike Petermann (Bremen) über “Training mit aggressiven Kindern”.1 Außerdem seien Erkenntnisse aus der Psychoanalyse über die narzisstische Wut2 und evolutionspsychologische Hypothesen eingeblendet. Theologisch werte ich exemplarisch Publikationen des Heidelberger Neutestamentlers Gerd Theißen aus, besonders sein Buch “Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte”.3

Christliche Friedenspädagogik ist ihrem Begriff nach eine zusammengesetzte Größe. 

  • Sie gründet erstens in pädagogischen Zielvorstellungen und Wegen, die direkt aus theologischen Grundlagen abgeleitet werden (Bergpredigt).
  • Sie umschließt zweitens allgemeine moralische Überzeugungen und pädagogische Einsichten, die nicht spezifisch christlich sind, aber theologisch unterstützt werden können und sollten. Zu ihnen gehört das kulturgeschichtlich überall verbreitete Grundgesetz der Moral, die “Goldene Regel”. Mit ihr wird die Moral im Menschen selbst verankert, im Selbstschutzmotiv: “Was du nicht willst, das man dir antut, das füge auch keinem andern zu!” Ethisches Allgemeingut ist ferner die Gewalt vermeidende Strategie der “Kooperation”, die ebenso auf der Logik der “Gegenseitigkeit” bzw. “Reziprozität” beruht.
  • Drittens gehören z. B. Streitschlichterprogramme, die auf dem Gedanken der “Mediation” beruhen, zu Verfahren, die schon im Alten und Neuen Testament analoge Vorbilder haben, wie etwa Abraham als Vermittler zwischen Gott und den Städten Sodom und Gomorra.




Vertrauensvolle und angstfreie Beziehungen aufbauen

Die Psychologen Franz und Ulrike Petermann schließen ihr zentrales Kapitel, in welchem sie ihre Konzeption vorstellen, mit drei Abschnitten, von denen der erste die “Rolle des Therapeuten” beleuchtet. Das Standardwerk verlangt vom Therapeuten ein “Basisverhalten”; zu ihm gehört Vertrauen:
“Die Fähigkeit, Vertrauen zu einem Kind aufzubauen, bildet das Kernstück des therapeutischen Basisverhaltens. Eine vertrauensvolle Beziehung ist nicht naturgegeben vorhanden, sondern muss mühsam durch ‚Beweise’ in der Interaktion mit dem Kind, aber auch mit seiner Familie entwickelt werden.”4

Ähnliches findet sich in Theißens “Jesusbewegung” gegen Schluss des Kapitels über “Die Vision von gewaltreduzierenden Strategien”.5 Nicht nur seien die Aggressionen und ihre Verarbeitung in der Jesusbewegung der Motor für neue Visionen von Liebe und Versöhnung gewesen. Vielmehr gelte auch:
“Voraussetzung für die verschiedenen Formen von Aggressionsverarbeitung war eine angstfreie Grundstimmung, ein erneuertes Grundvertrauen in die Wirklichkeit, das von der Gestalt Jesus ausstrahlt – bis heute.”6

Angstfreie Beziehungen seien auch wichtig, weil neben jenen aggressiven bis gewaltbereiten Handlungen, die der “egoistischen Durchsetzung eigener Bedürfnisse” dienen, “angstmotiviert aggressive Kinder” zu finden seien: “Die Kinder haben wenig Vertrauen, fühlen sich schnell sehr bedroht und angegriffen. Sie reagieren aus einer eingeigelten Abwehrhaltung heraus.”7 Erfolge beim Zurückschlagen oder bei Präventivschlägen hätten für sie einen doppelten Effekt; sie schüfen zum einen eine “emotionale Erleichterung” im Sinne einer “interne(n) Verstärkung”; zum anderen werde eine Strategie, wenn sie “erfolgreich” sei, fortgesetzt, weil sich die anderen daraufhin “respektvoll, ängstlich oder sogar unterwürfig zeigen”.8 Schnell erwachse aus diesem Verhaltensmuster “ein sich immer weiter aufschaukelnder Verstärkungsprozess”;  bei angstmotivierter Aggression sei eine “Erhöhung aggressiven Verhaltens” wahrscheinlich.9

Das bisher zu Einstellungen und Verhalten Gesagte ist in einem größeren theologischen Rahmen zu sehen. Jesus verkündete das “Reich Gottes”. Es sollte – in politischen Kategorien gesprochen – eine Herrschaft durchgesetzt werden, “Gottes Herrschaft”, aber sie erscheint in einer ganz anderen Art als der eines altorientalischen Despoten. Das Gebet, das Jesus seine Jünger lehrt, spricht Gott mit “Vater” an, mehr noch, Jesus nennt Gott vertrauensvoll “lieber Vater” (“Abba”). Politische Königstitel verschmelzen mit Familiensemantik. Gott erweist sich gegenüber Außenseitern und Benachteiligten als “fürsorgender Vater”.10

' Darum wird Gott seine Herrschaft auch selbst heraufführen, und zwar nicht mit militärischer Gewalt. Jesus hat die von ihm entsandten Wanderprediger ermutigt, selbst auf ein Minimum an Waffen zu verzichten. Sie sollen nicht einmal einen Stock mitnehmen, um sich gegen Überfälle durch Wegelagerer zu schützen (Mt 10,10; Lk 9,3, anders Mk 6,8, wo ein Stab konzediert wird). Bei der Gefangennahme ist dann sogar von einem Schwert bei seinen Begleitern die Rede. Dennoch schimmert die Grundlinie durch: Jesus wendet sich sofort dem zu, den seine Jünger, ohne Jesu Meinung abzuwarten, in unkontrollierter Wut mit dem Schwert verletzt haben (Lk 22,49-51). Jesus will keine gewalttätige Gegenreaktion. Stattdessen ruft er positiv zum Friedenstiften auf. “Selig sind, die Frieden machen, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden!”

Aus psychoanalytischer Sicht kann unkontrollierte Wut auf die “narzisstische Wut” bezogen werden, deren Wurzel “Ich-Kränkungen” sind. Jene Wut bilde sich schon beim Säugling und Kleinkind durch Nahrungsentzug oder -mangel. “Die Natur hat, um die überlebensnotwendige Bindung zwischen Kind und Eltern zu stärken, eine hochbrisante Reaktion auf die Enttäuschung von Erwartungen geschaffen. Wenn ein Baby schreit, kommt die Mutter und stillt es. Wenn sie nicht kommt, steigert sich das Schreien zu einem Wutgebrüll. Kommt die Mutter zu spät, kann es sein, dass ihr das Kind in die Brust beißt oder die Brust verweigert. Es ‚rächt’ sich für die Versagung”.11

Wutgefühle und Racheverlangen mischen sich auch in den folgenden Lebensjahren unter das Verhalten. Heute sind junge Menschen und Erwachsene vermehrt aggressionsbereit, weil sie bedrohende oder kränkende Umwelt erleben. Dies nährt ihre latente Abwehrhaltung.

Die Botschaft, von der die ersten Christen zehrten, setzte demgegenüber auf Liebe statt auf Bedrohung, Zuwendung statt Kränkung.

Für sie war nicht zuletzt die Beziehung zu Jesus als Person zentral. Sie lernten an Jesus als Modell.

Das Werk von F. und U. Petermann gründet in der Theorie sozialen Lernens nach Albert Bandura12, der durch seine Untersuchungen zum “Lernen am Modell” (oder auch Imitationslernen, Vorbildlernen, Bobachtungslernen genannt) berühmt geworden ist. Es ist eindeutig zu belegen, dass die urchristlichen Gemeinden und zuvor die Jesusbewegung Jesus neben seiner späteren sakramentalen Bedeutung auch als Vorbild ansahen, und zwar gerade im Blick auf ein gewaltloses Verhalten und friedliche Konfliktlösungen. Unter den Evangelisten fasst Matthäus diesen Punkt geradezu als “imitatio dei” auf, als Nachahmung Gottes selbst, wenn er sein bedeutendes Kapitel 5 über die Bergpredigt mit der Weisung beschließt: “Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist” (Mt 5,48). Den Willen des Vaters aber konnten die Anhänger Jesu an diesem Mann aus Nazareth in beeindruckender Weise Tag für Tag wahrnehmen, denn seine Lehre, sein Handeln, seine Person, kurz, sein Leben und Sterben, bildeten eine glaubwürdige Einheit. Was auch heute noch Vorbilder pädagogisch bei dem Thema Gewaltüberwindung bedeuten und hierbei Christen im Alltag und in der Leitung der Kirche bewirken können, ist unstrittig.



Gewalt vermeidende Handlungsalternativen anwenden

Zwischen Aggressionsbereitschaft und Gewaltverhalten ist zu unterscheiden. Ob sich jemand tatsächlich gewalttätig verhält oder nicht, hängt davon ab, ob er in einer bedrohlichen Situation blitzschnell eine angemessene Reaktionsmöglichkeit ohne Gewalt vor Augen sieht. Dies wiederum hängt davon ab, ob man alternative Gewalt vermeidende Strategien überhaupt kennt und sie einem etwas bedeuten. Auch die Anhänger Jesu waren, wie alle Menschen, keineswegs ohne Aggressivität. Das Ziel einer völligen Gewaltüberwindung ist illusorisch: Die Aufgabe besteht darin, Aggressivität zu gestalten und Gewalt zu reduzieren.

Im Alten Testament beginnt diese Linie der gottgewollten Mäßigung schon mit Gen 4, wenn Gott den Brudermörder Kain schützt und sein Leben erhalten sehen will. In den neutestamentlichen Texten ist vielfach Aggressivität präsent, vor allem in Gewaltphantasien. Es wäre falsch, aus dem bekannten Unterschied zwischen der drohenden Gerichtspredigt des Täufers und der “Frohen Botschaft” Jesu herauszulesen, dass Jesus nicht mehr an das kommende Gericht geglaubt hätte (Mk 13), ein “Tag” (13,32), der auch bei ihm der spätjüdischen Tradition gemäß von Gewaltphantasien geprägt war. Das Gleichnis vom Weltgericht endet mit der Scheidung von Gerechten und Ungerechten (Mt 25,31-46). Letztere erwarte das “ewige Feuer” (41). In der Aussendungsrede der 72 bei Lukas werden über die, die die Wanderprediger der Jesusbewegung nicht in ihre Häuser aufnehmen und verköstigen, ebenfalls sehr gewalttätige Folgen prophezeit: “Sodom wird es erträglicher gehen an jenem Tage als jener Stadt” (Lk 10,12). Von Jesus wird ferner in allen Evangelien der Akt der Vertreibung der Geldwechsler und Taubenhändler samt Käufern aus dem Vorhof des Tempels berichtet. Jesus stößt die Tische um (Mt 21,12ff; parr.). Auch wenn in der späteren Kirchengeschichte der eschatologische Dualismus von Erlösten und Verdammten eine fürchterliche kirchliche Strafpraxis zur Folge hatte, ist diese Linie neutestamentlich nicht dominant.

Im Kontext der biblischen Erzählungen zählen zu den Gewalt vermeidenden und reduzierenden alternativen Handlungsweisen messianische Symbolhandlungen. Es sei an Jesu Einzug auf einem Esel in Jerusalem (nach Sach 9,9) erinnert. Er zog durch das Osttor ein, während das römische Militär durch das Westtor einzureiten und einzumarschieren pflegte. Wir müssen uns ferner Jesu prophetische Kritik am Tempelkult vergegenwärtigen sowie seine Brüche des Sabbatgebots als besonders nachhaltig im Gedächtnis aufbewahrte Symbolhandlungen.

Zur christlichen Friedenspädagogik und -politik gehören gezielte Gegendemonstrationen. Alle genannten Handlungen konnten und sollten unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten gewalttätige Konflikte als Verhaltensalternativen ersetzen, auch wenn ihnen als Zeichen der angebrochenen Gottesherrschaft primär nicht eine ethische Bedeutung, sondern eine Heilsbedeutung zukam.

“ … Symbolpolitik ist nicht an sich gut. Sie kann auch fanatisieren. Aber sie bietet eine Chance, militante Aktionen durch gewaltlose zu ersetzen – wenn man es will und wenn das allgemeine Ethos gewaltfrei ist”.13

In der DDR scheiterte das Regime am 9. Oktober 1989 in Leipzig an solchen Symbolen: an Kerzen  und Gebeten. Ausgangspunkt waren die Friedensgebete in den Leipziger Innenstadt-Kirchen ab 17 Uhr. Dann setzte sich der Protest auf den Straßen fort. Die geschätzten 70.000 Demonstranten der heute sog. Friedlichen Revolution hielten keine Knüppel, sondern Lichter in den Händen. Die Menge war Schritt für Schritt angewachsen und wurde pausenlos beobachtet und überwacht. Das Wunder gelang. Die Machthaber schritten nicht militärisch ein. Horst Sindermann, mächtiges Politbüro-Mitglied der SED, räsonierte später: “Wir hatten alles geplant. Wir waren auf alles vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete.”



Feindesliebe als Mitte des christlichen Friedensethos

Die dritte Antithese der Bergpredigt betrifft die Mitte des Friedensethos des Christentums. Es ist das zur Feindesliebe radikal gesteigerte Gebot der Nächstenliebe. Als Ethos umgreift und trägt die Feindesliebe alle obigen Verhaltensanweisungen.

“Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Liebe deinen Nächsten und hasse deinen Feind.’ Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet, denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.” (Mt 5,43f.)

Jesu Aufforderung “übertraf … alle jüdischen Liebeserweise gegenüber Feinden. Jesus meinte mit ‚Feind’ (echthros) nämlich keineswegs nur den (zeitweisen) Hasser, Gegner oder Kontrahenten, sondern jeden Feind: den politischen, religiösen und persönlichen Feind … Solcher Radikalismus war einmalig. Die matthäischen Gemeinden hatten ihn sich zu eigen gemacht … (Die) auch keinen Feind ausgrenzende Liebe … ist außer-ordentliche Liebe. Sie soll schon jetzt auf Erden herrschen”.14 Jesus greift auf Gott selbst und seine nicht-selektive Liebe zurück, der seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte. “Zum Erlösungsargument des kommenden Gottesreiches fügte er jetzt das Schöpfungsargument des Natursegens hinzu”, ein in der Antike (Seneca) zwar bekanntes Argument, “aber im Kontext mit dem Erlösungsargument war es einmalig” (Mokrosch, ebd.).

Welche Einzelaspekte sind für eine christliche Friedenspädagogik wegweisend?

  1. Die Logik der Vergeltung wird im Neuen Testament grundsätzlich unterbrochen und durch die Logik der Vergebung ersetzt, wenn im Kontext des “Gleichnisses vom unbarmherzigen Schuldner” (Mt 18,21-35) Jesus auf die Frage des Petrus, wie oft man seinem Bruder vergeben solle, etwa “bis zu siebenmal?”, antwortet: “Ich sage dir, nicht bis siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal” (21f.). Die enorme Energie, die von den Menschen bislang zum feindseligen Zurückschlagen verbraucht wird, soll verwandelt werden. Jesus praktiziert dies. Erneut ist pädagogisch vom “Lernen am Modell” zu sprechen. 
  2. Für eine christliche Friedenspädagogik gilt die Maxime, im Konflikt den ersten Schritt zu tun, durch den man dem anderen wieder entgegenkommt. Dies entspricht dem immer neuen barmherzigen und vergebenden Entgegenkommen Gottes, wie es in den Evangelien in der Erzählung vom so genannten “verlorenen Sohn” unvergesslich anschaulich gemacht worden ist: Der Vater läuft (!) in einer nach den damaligen Ehrvorstellungen verpönten Selbsterniedrigung seinem zurückkehrenden Sohn freudig entgegen. Paulus hat dann theologisch die Reihenfolge von “Indikativ” und “Imperativ” auf den Punkt gebracht. Martin Luther unterschied zwischen “Person” und “Werk”. Anthropologisch gehört zur christlichen Friedenserziehung, dem Menschen die Möglichkeit zum Guten zu unterstellen.
  3. Das Gewaltthema ist eng mit dem Ausländerthema verquickt. Das Ethos der Jesusbewegung und des Urchristentums ist zwar primär auf die Aggressionen unter den Anhängern Jesu und in den eigenen Gemeinden bezogen, aber auch in bezeichnender Weise auf den Umgang mit der ablehnenden Umwelt. Das Johannesevangelium beantwortet die Ablehnung durch Juden mit einer gesteigerten Ablehnung der Juden bis zu einem anscheinend unüberbrückbaren tödlichen Gegensatz schlechthin. Liebe nach innen hat als psychologisch naheliegende Kehrseite die Feindschaft nach außen als Begleiterin. Bemerkenswert ist demgegenüber der Fortgang der fünften Antithese zur Feindesliebe: “Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr dafür? Machen nicht auch die Zöllner dasselbe? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was ist da Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden?” (Mt 5,46).


“Nächstenliebe” ist ursprünglich auf die “Nächsten” gerichtet, sie betrifft den Sippen- oder Verwandtschaftsaltruismus. Das Wort “Nächster” ist daher für eine zukunftsfähige Ethik zunächst missverständlich. Schon im Alten Testament entdeckt man zwar semantische Ausweitungen, aber erst die neue apodiktische und demonstrative Interpretation der Nächstenliebe als Feindesliebe durch Jesus ist der Durchbruch.

Vergebung und Zuwendung zum “Feind” kosten Selbstüberwindung. Die uralte, immer wiederkehrende soziale Unterscheidung von “wir” und “andere” scheint maßgeblich zu den typischen binären Klassifikationen wie “gut/böse”, “negativ/positiv” geführt zu haben. Der Ausbildung der Denkstrukturen liegen mithin evolutionsgeschichtlich sehr wahrscheinlich soziale Unterscheidungen zugrunde. Folglich können alternative soziale Erfahrungen helfen, unsere verhängnisvollen Denkmuster zu verändern. Das Christentum spiegelt beides. Christen waren in der Kirchengeschichte ganz überwiegend Gefangene des Freund-Feind-Denkens in ihrer jeweiligen Zeit. Sie bezeugten aber auch in den wenigen Gestalten, die mit Fug und Recht zu den Pionieren einer christlichen Friedenspädagogik zu zählen sind (Franz von Assisi, Johann Amos Comenius, Johann Gottfried Herder, Friedrich Wilhelm Foerster), das Vermögen, das dualistische Schema zu überwinden.15

Wenn soziale Interaktionserfahrungen die Denkformen (mit)prägen, sind Sonntagsreden der Politiker und bloße Belehrungen in Schule und Gemeinde nicht erfolgversprechend. Wirksamer sind alternative Sozialisationserfahrungen in Gestalt der nachhaltigen Begegnung oder des zumindest zeitweiligen Zusammenlebens mit anderen Menschen, seien sie Ausländer, Fremde oder Andersgläubige. Ein entscheidender Faktor ist in diesem Kontext das fremdenfreundliche oder -feindliche, religiös tolerante oder intolerante Gesamtklima einer Gesellschaft.

Günther Eisenhauer zum 80. Geburtstag

 

Anmerkungen

  1. Petermann, Franz / Petermann, Ulrike: Training mit aggressiven Kindern, 10. vollständig überarbeitete Aufl. Weinheim 2001
  2. (1. Aufl. 1978), S. 10.
  3. Schmidbauer, Wolfgang: Der Mensch als Bombe. Eine Psychologie des neuen Terrorismus, Reinbek b. Hamburg 2003, 2005.
  4. Theißen, Gerd: Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte, Gütersloh 2004.
  5. Petermann/Petermann, S. 109.
  6. Theißen, S. 243-289.
  7. Ebd., S. 289 – kursiv vom Verfasser.
  8. Petermann/Petermann, S. 6.
  9. Ebd., S. 7.
  10. Ebd.
  11. Theißen, S. 249, Lk 11,1-13.
  12. Schmidtbauer, Wolfgang: Blind vor Wut, in: GEOWissen, Nr. 35/2005, Themaheft “Sünde und Moral. Wie weit dürfen wir gehen?” S. 90-97, hier S. 92.
  13. Petermann/Petermann, S. 95ff.
  14. Theißen, S. 275; Zitat S. 277.
  15. Mokrosch, Reinhold: Die Bergpredigt im Alltag. Anregungen und Materialien für die Sekundarstufe I/II, Gütersloh 1991, S. 93.
  16. Vgl. ausführlich Nipkow, Karl Ernst: Der schwere Weg zum Frieden. Geschichte und Theorie der Friedenspädagogik von Erasmus bis zur Gegenwart, Gütersloh 2007.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2010

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