Versuchung und Verpflichtung - Werteerziehung in der pluralistischen Demokratie*

von Karsten Fischer

 

Die seit etlichen Jahren geführte Debatte über Werte und Werteerziehung thematisiert bevorzugt einen vermeintlichen Werteverlust. Entgegen solchen ebenso wohlmeinenden wie wohlfeilen Krisendiagnosen besteht das Problem aber womöglich eher in einer Wertekollision, die sich daraus ergibt, dass die in unserer Gesellschaft durchaus vorhandenen Werte untereinander inkompatibel sind und also zu sozialen Konflikten führen. Hiermit wird bereits das nachfolgend zugrunde gelegte Begriffsverständnis praktiziert: Werte sind Vorstellungen von der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten. Wer Werte hat meint, dass diese Werte Einfluss haben sollten auf die Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten. Im Sinne dieses Begriffsverständnisses ist etwa gutes Benehmen, wie das Freimachen von Sitzplätzen für Ältere, kein Wert. So wichtig solch gutes Benehmen auch ist – es ist kein Wert, und zwar, weil es nichts Strittiges, Diskutables enthält. Niemand bestreitet, dass es „freundlich“, „höflich“ oder „anständig“ ist, einem älteren Menschen den Sitzplatz zu überlassen; auch kein Jugendlicher, der, dem mitunter leider realen Cliché zufolge, Kaugummi kauend und Musik hörend sitzen bleibt. Dieser interessiert sich offenbar einfach nicht für Benehmen, weshalb eine entsprechende Ansprache auch entweder zu gar nichts führt oder zu mürrischem Aufstehen ohne Einsicht in das Fehlhalten, zur bloßen Vermeidung eines Konflikts, denn der wäre „uncool“ und störte noch mehr beim Musikhören als aufzustehen. Werte hingegen sind naturgemäß konfliktträchtig, komplex und daher mehrdeutig.

Meinungsfreiheit kontrastiert häufig – wir erleben es gerade zurzeit – mit religiöser Pietät. Toleranz und Respekt sind ohnehin „richtungslose“ Werte, weil sie gleichermaßen Toleranz und Respekt gegenüber freier Rede wie auch Toleranz und Respekt gegenüber religiösen Gefühlen meinen können. Der Wert der Religionsfreiheit ist extrem abhängig vom dem religiös mitbestimmten Freiheitsverständnis, also zirkulär. Diese Liste ließe sich uferlos verlängern, denkt man etwa an „Solidarität“, „Gerechtigkeit“ etc. Werte sind also ein unspezifisches Element sozialer Kommunikation.


Entsprechend problematisch ist es, wenn Religion in der öffentlichen Kommunikation gelegentlich auf Werteerziehung reduziert wird – zumal dies den Eindruck vermitteln könnte, im Sinne einer Arbeitsteilung seien die anderen Fächer der schulischen Erziehung damit von der Aufgabe der Werteerziehung freigestellt, auch wenn dies nicht gemeint ist, sondern nur eine typisch säkularistische, gesellschaftliche Erwartung an Religion und Religionspädagogik kommuniziert wird.

Beide Probleme haben also einen gemeinsamen Fluchtpunkt: ihren politischen und sozialen Rahmen. Im ersten Fall, der Wertekollision, ist das nahe liegend, und auch wenn wir die von uns geforderte beziehungsweise uns mögliche Werteerziehung reflektieren, tun wir dies unter den Voraussetzungen der pluralistischen Demokratie.

Diese ist, wie schon ihr Name sagt, dadurch gekennzeichnet, dass sie, wie es bei Jürgen Habermas heißt, eine Pluralität gleichermaßen legitimer Lebensformen zulässt und fördert, mit dem zwangsläufigen Ergebnis von Kollisionen zwischen deren Wertvorstellungen. Diese Liberalität tangiert auch den Bereich der Werteerziehung, denn eine pluralistische Demokratie ist vital darauf angewiesen, dass sie selber als Wertentscheidung erkannt und erhalten wird; sie kann aber – in Variation einer berühmten Feststellung Ernst-Wolfgang Böckenfördes – um ihrer Liberalität willen nur in sehr begrenztem Maße pädagogisch wirken, denn sie muss weltanschaulich neutral bleiben. In diesem Sinne ist Werteerziehung in der pluralistischen Demokratie ebenso eine Verpflichtung wie auch eine Versuchung.

Den hiermit umrissenen Problemen werde ich mich nun in drei Schritten widmen. Erstens werde ich die Wertedebatte historisch einordnen. Von hieraus werde ich, zweitens, die Funktion von Wertediskussionen in der modernen Gesellschaft betrachten, bevor ich  drittens, diskutiere, inwiefern eine Funktion der Religion in „Wert-Arbeit“ besteht.

 

1. Der Verlust der Tugend in der modernen Gesellschaft

Mit der Entscheidung für eine historische Vorgehensweise nehme ich eine Beobachterposition ein, das heißt, ich will verstehen lernen, weshalb wir in unserer modernen Gesellschaft über Werte diskutieren und weshalb wir dies so häufig in der kulturkritisch-pessimistischen Gewissheit eines Werteverlusts tun. Dies hat, so meine These, damit zu tun, dass auf dem Weg in die moderne Gesellschaft tatsächlich eine Verlustanzeige zu machen ist. Was nämlich gleichsam im alten Europa verblieben ist und die Französische Revolution als Schwelle zur Moderne nicht überlebt hat, ist das republikanische Ideal politischer Tugend.

Bekannt ist es seit der griechischen Antike, in der beispielsweise Aristoteles betont hat, dass die Tugend der Bürger die wichtigste Bestandsbedingung des Gemeinwesens darstelle. Was wir heute Werte nennen, wurde im alteuropäischen Diskurs also unter einem von vornherein öffentlich und politisch gedachten Begriff verhandelt. Seine Fortdauer im politischen Denken der Neuzeit hat dieses Ideal politischer Tugend aber nicht über die griechische Antike, sondern über den römischen Republikanismus genommen. So preist beispielsweise Sallust in De Catilinae Coniuratione die glorreiche Vergangenheit der Republik mit der Beschreibung cives cum civibus de virtute certabant (Bürger wetteiferten mit ihresgleichen um Tugendhaftigkeit).

Auf der Basis dieses Denkens blieben bis in die Neuzeit hinein Gemeinwohl und Eigeninteresse – mit einem Begriff von Reinhart Koselleck – asymmetrische Gegenbegriffe, das heißt binäre Begriffe mit universalem Geltungsanspruch, die eine wechselseitige Anerkennung ausschließen: Entweder man verfolgte seinen eigenen, privaten Nutzen, oder man verzichtete auf diese natürliche Neigung und handelte statt dessen tugendhaft, das heißt absichtlich und gemeinwohlorientiert. Denn politische Tugend lässt sich so definieren als freiwillige Bereitschaft von Bürgerinnen und Bürgern, ihren Eigennutzen zumindest dann dem Allgemeinwohl unterzuordnen, wenn andernfalls die soziale Gemeinschaft Schaden nähme. Aktuelle Beispiele hierfür sind Umweltverschmutzung und Missbrauch wohlfahrtsstaatlicher Leistungen.

Die sozialen und ideologischen Umwälzungen im 16. und 17. Jahrhundert umfassten aber auch den Tugenddiskurs. Eine Schlüsselstellung nimmt hierbei Bernard Mandevilles erstmalig 1705 erschienene Bienenfabel ein. Äußerlich entspricht diese zwar scheinbar der asymmetrischen Gegenbegrifflichkeit von Eigennutz und Gemeinwohl; die Lehre aus der Fabel von dem unzufriedenen Bienenstock aber stellt den tradierten Sinn dieser Kontrastierung geradewegs auf den Kopf. Private vices, public benefits lautet sein Credo: Indem jeder Einzelne, seiner natürlichen Anlage gemäß, egoistisch sein privates Wohl verfolgt, wird im Endeffekt der größtmögliche Nutzen für das öffentliche Gemeinwesen herbeigeführt, so dass „der Allerschlechteste sogar fürs Allgemeinwohl tätig war“, wie Mandeville reimt. Mandevilles Konstruktion basiert darauf, dass die Bürger zu einer rationalen Verfolgung ihrer Eigeninteressen in der Lage sind wirtschaftstheoretisch modern gesprochen: zu einer rationalen Wahl ihrer Ziele und Mittel.

Hegemonial wird dieses Denken dann in den neuzeitlichen Vertragstheorien, die übereinstimmend darauf vertrauen, dass der Markt als Institution die egoistischen Handlungskalküle der Einzelnen so miteinander verbinden kann, dass daraus das allgemeine Beste resultiert. An die Stelle der sozial-moralischen Intentionalität der Bürger rücken damit institutionelle Mechanismen. Beispielhaft finden wir dies bei Immanuel Kant und bei Adam Smith. Das Problem der Staatserrichtung, so Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden, sei „selbst für ein Volk von Teufeln“ lösbar, sofern sie nur Verstand hätten. Damit entspricht Kant der berühmten Überlegung des schottischen Moralphilosophen Adam Smith, einem der wichtigsten Vordenker der kapitalistischen Marktwirtschaft. In seiner Untersuchung über den Wohlstand der Nationen behauptete Smith nämlich, dass dank einer unsichtbaren Hand ein um so größeres Wohl der Allgemeinheit entstehe, je stärker sein Gegenteil, der Privatnutzen erstrebt werde. Denn, so Smith, nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarteten wir unsere Lebensmittel, sondern von deren Interessenwahrnehmung, das heißt: von ihrem Gewinnstreben. Indem jeder sein Eigeninteresse verfolgt, soll es also dank eines wundersamen Marktmechanismus zum allgemeinen Wohl kommen. Mit diesem Vertrauen hat Smith gleichsam den semantischen Coup des Liberalismus vollzogen, Eigeninteresse und Gemeinwohlorientierung miteinander zu verschränken und deren traditionelle Gegenbegrifflichkeit aufzulösen.

Doch unabhängig davon, ob man Mechanismen des Marktes vertraut, wie Smith, oder Mechanismen politischer Institutionen, verbunden mit Rationalität, wie Kant entscheidend ist, dass hiermit das Tugendideal von der Intentionalität gesellschaftlicher Akteure, von ihrem Gemeinsinn, entkoppelt und einem Automatismus überantwortet wird, den man als innersten Kern des politischen Denkens der Moderne bezeichnen kann: dass man nämlich auf die guten Absichten gesellschaftlicher Akteure, auf ihren Gemeinsinn, verzichten könne, solange nur das institutionelle Design stimmt. Claus Offe hat dies einmal mit dem schönen Bild beschrieben, der Kapitalismus sei ein Theaterstück, das sich auch dann aufführen lasse, wenn alle Hauptrollen mit Schurken besetzt seien. In der Konsequenz des Kantischen Denkens könnte man dies sogar auf die Demokratie übertragen. Auf diese Weise wurde die Idee politischer Tugend als Leitbegriff des alteuropäischen Republikanismus sukzessive ersetzt durch das Paradigma rationalen, wohlverstandenen Eigeninteresses – die Menschen dürfen laut Kant Teufel sein, sofern sie nur Verstand haben.

Nun klingt diese Entwicklung des modernen politischen Denkens vom Tugend- zum Interessediskurs auf den ersten Blick nicht gerade positiv, sondern in der Tat nach einer Verlustanzeige. Genauer betrachtet liegt in seinem Desinteresse an dem Zustand staatsbürgerlicher Werte jedoch auch die Bedingung der Liberalität des modernen Verfassungsstaates. Um sicher zu wissen, wie viel Freiraum er seinen Bürgerinnen und Bürgern lassen kann – wie stark er sich etwa, um noch einmal diese Beispiele zu bemühen, darauf verlassen kann, dass ökologische Belange beachtet und Sozialversicherungssysteme nicht missbraucht werden –, müsste der demokratische Staat nämlich gleichsam den jeweils aktuellen Pegelstand der allgemeinen Tugendhaftigkeit kennen. Dies wäre aber nur möglich, wenn er die Gesinnung seiner Bürgerinnen und Bürger kontrollierte, und dann wäre er eben kein freiheitlich-demokratischer Staat mehr. Dem berühmten, viel zitierten und auch hier eingangs variierten Satz Ernst-Wolfgang Böckenfördes zufolge lebt der liberale Staat daher von sozial-moralischen Grundlagen, die seiner Verfügungsgewalt entzogen bleiben müssen, und dies sind die Religion und die Politische Bildung, die der demokratische Staat fördert, aber eben nicht kontrolliert, sondern pluralistisch organisiert.

 

2. Die Werte der Gesellschaft

Diese historisch vermittelten Einsichten lassen sich nun gesellschaftstheoretisch vertiefen, indem man die Perspektive eines Beobachters zweiter Ordnung einnimmt und beobachtet, wie sich die Gesellschaft mittels Wertediskussionen selbst beobachtet: Wie beobachtet sich die Gesellschaft als einem Wandel oder gar einem Verlust ihrer Werte unterworfen beziehungsweise als im Prozess von Wertebildung befindlich? Und wie beobachtet sich die Gesellschaft als einer Kollision von Werten ausgesetzt?

Mit dieser von der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns vorgeschlagenen Perspektive wird die simple Frage nach der Funktion von Werten ersetzt durch die komplexere Frage nach der sozialen Funktion der Kommunikation über Werte. Dies ist keine intellektuelle Spielerei, sondern beinhaltet eine kritische Sichtweise auf die Semantik von Werteentstehung, Wertewandel und Werteverlust. Denn, wie Luhmann betont hat, Werte sind viel zu abstrakt, um handlungsanleitend zu sein. Gesundheit beispielsweise ist ein allgemein akzeptierter Wert, was aber noch nichts darüber aussagt, ob es richtig ist, sein Kind impfen zu lassen. Hierüber entscheiden wissenschaftlich-medizinische oder weltanschauliche Orientierungen. Ebenso können, wie eingangs bereits betont, die richtungslosen Werte der Toleranz und des Respekts von gegensätzlichen Interessen gleichermaßen in Anspruch genommen werden. Wertekollision ist also keine Besonderheit eines Kampfs der Kulturen im Sinne Huntingtons. Und die Funktion von Werten besteht gerade darin, dass sie als fraglos vorausgesetzt werden und einen Verzicht auf die für bewusste Handlungen konstitutiven Begründungen ermöglichen. Werte sind, in der Terminologie der Systemtheorie, ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das heißt sie dienen zur Erhöhung der Erfolgswahrscheinlichkeit von Kommunikation. Andere symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sind Macht, Geld und Liebe. Wenn A beispielsweise Macht über B hat, erhöht dies ganz erheblich die Wahrscheinlichkeit, dass B auf As Kommunikation einer Handlungsanweisung reagiert und diese dadurch anschlussfähig wird.

Zusammenfassend kann man insoweit mit Luhmann feststellen, dass Werte das Medium einer Gemeinsamkeitsunterstellung sind, ohne festzulegen, wie konkret zu handeln ist. Diese unhinterfragte Gemeinsamkeitsunterstellung reproduziert soziale Kommunikation.

Wichtig hieran ist, dass die fehlende Handlungsdetermination durch Werte eine Bedingung der Liberalität der modernen Gesellschaft ist. Werte sind ein kommunikatives Ereignis. Fungieren sie als etwas anderes, transportieren sie mehr, motivieren sie leicht zu dem, was Luhmann Gewaltkommunikation nennt.

Drei weitere Eigenarten von Werten, die für die Liberalität der modernen Gesellschaft wichtig sind, kommen hinzu.
Zum ersten sind Werte in der modernen Gesellschaft inappelabel. Man hat keine funktionssystemspezifischen Adressen, bei denen man sich über die Verletzung von Werten beschweren könnte. Die Berufung auf Werte bleibt stets selbstbezüglich, sie reproduziert Kommunikation, aber sie determiniert keine Konsequenzen. Denn hierfür sind die sozialen Teilsysteme mit ihrer je eigenen Funktionslogik zuständig. Man kann der Meinung sein, die interne Auswahl von Wahlkandidaten durch politische Parteien widerspreche demokratischen Werten – das auf die Erhaltung von Macht konzentrierte Funktionssystem Politik sieht aber keine Wertorientierung vor, sondern nur Erfolgsorientierung. Gleiches gilt entsprechend für das Wirtschaftssystem mit seiner Konzentration auf Prosperitätssteigerung. Wie wenig eine Berufung auf Werte in der modernen Gesellschaft handlungsrelevant ist, zeigt sich vor allem auch im Rechtssystem, dessen Konzentration auf Legalität, also auf das positive Recht, es nicht vorsieht und ggf. sogar sanktioniert, wenn konkurrierende Werte geltend gemacht werden, von Stillschweigeversprechen gegenüber Parteispendern bis hin zu euphemistisch so genannten Ehrenmorden in Migrantenkulturen, einem aktuellen Extrembeispiel vormoderner Werteorientierung.

Dies führt zu der zweiten Eigenart von Werten in der modernen Gesellschaft. Systemtheoretisch gesprochen, kann man einen re-entry der Unterscheidung in das Unterschiedene vollziehen und nach der Einheit der Unterscheidung fragen. Das heißt hier: Moral unterscheidet mit dem binären Code gut oder böse – ist es aber nun gut oder ist es böse, die Unterscheidung gut oder böse vorzunehmen? Auch dies ist weit mehr als eine intellektuelle Spielerei, denn es verweist darauf, dass zentrale Lebensbereiche der modernen Gesellschaft von Wertfragen freigestellt bleiben müssen, weil sonst die freie Entfaltung dieser Lebensbereiche beeinträchtigt würde. Werte dürfen die Funktionslogiken sozialer Teilsysteme nicht supercodieren. Die politische Unterscheidung Regierung/Opposition kann man nicht mit der Unterscheidung gut oder böse sinnvoll erfassen, ebenso wenig die ökonomische Unterscheidung Eigentum/Eigentumslosigkeit, die wissenschaftliche Unterscheidung Wahrheit/Irrtum, die künstlerische Unterscheidung Schönheit/Hässlichkeit beziehungsweise Innovativität/Konventionalität und die religiöse Unterscheidung Immanenz/ Transzendenz. Wer dies doch tut, ist ein Totalitärer oder ein Fundamentalist. Hierauf wird noch zurückzukommen sein.

Die dritte Eigenart von Werten in der modernen Gesellschaft besteht darin, dass sie Annahmemotivation nicht erzeugen, sondern voraussetzen und damit zirkulär sind. Dies lässt sich am Beispiel der als Inhalt des Tugendideals genannten Gemeinwohlorientierung veranschaulichen. Der Begriff Gemeinwohl bezeichnet den normativen Orientierungspunkt sozialen Handelns, und der Begriff Gemeinsinn bezeichnet die Bereitschaft der sozial Handelnden, sich an diesem normativen Ideal tatsächlich zu orientieren. Demnach sagt uns das normative Gemeinwohlideal, wie viel und welchen Gemeinsinn wir aufbringen sollen; umgekehrt ist aber das Vorhandensein eines Minimums an Gemeinsinn die vorgängige, motivationale Voraussetzung dafür, dass überhaupt die Bereitschaft zur Orientierung am Gemeinwohlideal besteht.

Diese Zirkularität bestätigt wiederum die Feststellung Böckenfördes, der liberale Staat lebe von Voraussetzungen, die er nicht selber reproduzieren könne. Und gerade bei der Verfügbarmachung von Gemeinsinn wird gerne sogleich an die Religion gedacht, ganz im Sinne der eingangs zitierten Problematisierung. Wir können also abschließend, im dritten Schritt, Überlegungen zu den Bedingungen von Werteerziehung und deren möglichem religionspädagogischen Anteil anstellen.

 

3. Wert-Arbeit als Funktion der Religion?

Wenn wir bis hierhin das von Böckenförde formulierte Paradox bestätigt finden, dass ein freiheitlicher Staat von sozial-moralischen Voraussetzungen lebt, die er um seiner Freiheitlichkeit willen nicht selber reproduzieren darf, weswegen er im wahrsten Sinne des Wortes auf moralische Unterstützung von Seiten der Religion angewiesen ist, dann beinhaltet dies zweierlei: Einerseits darf der liberale Staat Werterziehung nur in homöopathischer Dosierung betreiben, da auch die Sozial-Moral der Bürgerinnen und Bürger deren Privatangelegenheit bleiben muss. Obligatorisch ist nur die pure Gesetzestreue. Andererseits ist die gesellschaftliche und zumal die politische Erwartung an Religion als Moralproduzenten unter diesen Bedingungen zwangsläufig.

Von dieser Ambiguität ausgehend, muss man also grundsätzlicher fragen, was den Standort der Religion in der modernen Gesellschaft ausmacht. Hierzu bemühe ich nochmals die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns.

Die moderne Gesellschaft ist, Luhmann zufolge, durch funktionale Differenzierung gekennzeichnet, das heißt, dass jedes funktionale Teilsystem eine je eigene Leistung für die Gesellschaft erbringt. Jedes funktionale Teilsystem – Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Kunst, Religion etc. – hält sich aber auch für die Gesamtgesellschaft. Dies gilt auch und gerade für die Religion. Einstmals waren Religion und Gesellschaft nämlich kaum zu unterscheiden. In der modernen Gesellschaft aber ist auch die Religion nur ein Teilsystem unter anderen; es gibt keine Totalinklusion, keine Integration in die Gesamtgesellschaft mehr, wie sie in der vormodernen Gesellschaft durch die tendenziell, zumindest nominell bevölkerungsweite Gemeinschaft aller Gläubigen repräsentiert war. Heute aber bewahrt die Religion, wie Luhmann ironisch bemerkt, weder vor Inflation noch vor einem unliebsamen Regierungswechsel, weder vor Liebeskummer noch vor wissenschaftlicher Widerlegung des Weltbildes.

Die solchermaßen selbstbezüglich arbeitenden Funktionssysteme operieren mit binären Codes. Im Fall der Religion lautet der Code Immanenz/Transzendenz. Als Ergebnis sozialer Evolution kommt es im Fall des Religionssystems laut Luhmann aber zu einer Zweitcodierung, ja sogar zu einer Fusion von Religion und Moral. Solange der religiöse Code nämlich vertraut/unvertraut lautete, Religion also zur Plausibilisierung unvertrauter beziehungsweise unheimlicher (Natur-)Phänomene diente, bedurfte es keiner Moralisierung und keines transzendenten Heilsversprechens, wie schon Max Weber festgestellt hat.

Dies ändert sich, Luhmann zufolge, wenn sich mit stärkerer sozialer Differenzierung der Schwerpunkt der Religion auf Sozialregulierung verschiebt und Religion dem gesellschaftlichen Interesse an einer Begründung der alltagsrelevanten Unterscheidung zwischen gut und schlecht dient. Dieser nachhaltige Bedeutungsgewinn hat für die Religion den Vorteil, dass sie sich mit den in modernen Gesellschaften unabänderlichen Relativierungen von Geltungsansprüchen abfinden kann, was ihr naturgemäß schwer fällt. Gerade dann ist es aber besonders wichtig, dass das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium des Funktionssystems Religion der Glaube ist und bleibt – und eben nicht Werte. Im Extremfall führt diese religiöse Evolution zur protestantischen Lehre der Rechtfertigung allein durch den Glauben, dessen gesamtgesellschaftliche Voraussetzung, Luhmann zufolge, darin besteht, dass Glauben als Privatangelegenheit angesehen werden kann und dementsprechend nicht in die Funktionslogiken anderer sozialer Teilsysteme eingreifen will, sondern in seinen gesamtgesellschaftlichen Folgen gleichsam neutralisiert ist. Eine in der Moderne angekommene Religion wie das großkirchliche Christentum antwortet auf die angesprochene Frage, ob es gut oder böse ist, die Unterscheidung gut oder böse vorzunehmen, mit Transzendenz: Dies zu entscheiden, ist allein die Aufgabe Gottes.

Wird hingegen die Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz als primärer Code des Funktionssystems Religion ersetzt durch die Unterscheidung zwischen Gläubigkeit und Ungläubigkeit und gleichzeitig Glaube als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium der Religion ersetzt durch Werte, haben wir es mit Fundamentalismus zu tun. Dieser antwortet auf die genannte Frage, es sei gut, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Dementsprechend beansprucht er die moralisierende Regelung aller Lebensbereiche und will selber Gott spielen. Man kann dies erneut mit der Systemtheorie veranschaulichen: Die Funktion von Politik ist laut Luhmann das Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden. Religion hingegen garantiert die Bestimmbarkeit allen Sinnes gegen die miterlebte Verweisung ins Unbestimmbare. Werden diese Funktionen entgegen der Logik funktionaler Differenzierung gleichsam kurzgeschlossen, haben wir es mit jenen religionspolitischen Pathologien zu tun, deren antimodernistische Gefährlichkeit wir seit einiger Zeit beobachten können: Es kommt zu einer religiösen Sinngebung kollektiv bindenden Entscheidens, anstatt dieses nur dem im Wortsinne „Sinn-losen“, demokratischen Volkswillen anheim zu stellen.

In dieser Kontrastierung mit Fundamentalismus wird nun auch klar, dass eine sozial-evolutionär fortgeschrittene, in der modernen Gesellschaft angekommene Religion nicht für konkrete Werteerziehung brauchbar ist, sondern nur für die abstrakte, aber um so wichtigere Einsicht, dass Wertekollisionen unvermeidlich sind und dass es hierbei gerade auf die richtungslosen Werte des Respekts und der Toleranz ankommt. Insoweit kann man geradezu von einer Ausweitung des Böckenförde-Problems sprechen: Der freiheitliche Staat lebt nicht nur von sozial-moralischen Voraussetzungen, die er um seiner Freiheitlichkeit willen nicht selber reproduzieren darf, weswegen er im wahrsten Sinne des Wortes auf moralische Unterstützung von Seiten der Religion angewiesen ist – er ist dabei auch noch auf eine bestimmte Evolution der Religion angewiesen, nämlich diejenige auf den Bewusstseinsstand der Aufklärung. Das bedeutet, dass die christliche Religion für die Werteerziehung in der freiheitlichen Gesellschaft wertvoll bleibt, sofern sie nicht darauf regrediert, „modernen Relativismus“ bekämpfen zu wollen, sondern ihre im Rahmen der Zweitcodierung gewissermaßen indirekte Moralorientierung beibehält. Und nur wenn islamische Religionsgemeinschaften die Evolution auf diesen Bewusstseinsstand der Aufklärung nachvollziehen können und wollen, kann auch der derzeit viel diskutierte islamische Religionsunterricht zur für die freiheitliche Gesellschaft produktiven Werteerziehung beitragen, und zwar gerade weil er dann keine absolut gesetzten eigenen Werte durchsetzen möchte, sondern sich auf seinen Glauben konzentriert, der paradoxerweise durch diese Konzentration als Privatangelegenheit verstehbar wird.

 

Anmerkung

  1. Der Artikel basiert auf einem Vortrag bei der jährlichen Tagung für Schulleiterinnen und Schulleiter an niedersächsischen Gesamtschulen im RPI Loccum vom 1. März 2007

 

Literatur

  • Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart etc. 1967, S. 75-94.
  • Fischer, Karsten: Moralkommunikation der Macht. Politische Konstruktion sozialer Kohäsion im Wohlfahrtsstaat, Wiesbaden 2006.
  • Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997.
  • Luhmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2008

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