"Ich packe meinen Koffer..." - Ein Abiturgottesdienst

von Petra Pfaff

 

1. Voraussetzungen zur Entstehung eines Abiturgottesdienstes

Am Erich-Kästner-Gymnasium ist es seit vielen Jahren Tradition, den Tag der Entlassung mit einem Abiturgottesdienst in der benachbarten evangelischen Kirche zu beginnen, an den sich dann die schulischen Feierlichkeiten anschließen. Der Gottesdienst wird von evangelischen und katholischen SchülerInnen und den Lehrkräften beider Konfessionen vorbereitet und von so gut wie allen Abiturienten mitsamt ihren Angehörigen besucht. Die Resonanz ist durchweg positiv. Die Einladung zum Gottesdienst erfolgt bei der Verkündung der Abiturnoten durch die Schulleitung. Die Schulleitung stand dem Vorhaben, einen Abiturgottesdienst anzubieten, von Anfang an wohlwollend gegenüber.

 

1.1. Der zeitliche Umfang:

Beginn des 13. Schuljahres:
Es wird ein eigenes "Abiturgottesdienst-Komitee" (bestehend aus durchschnittlich 6 Schülern und Schülerinnen) neben anderen Komitees für die Abifete, Abizeitung oder den Abiball gebildet. (In den Anfangsjahren sprachen die Lehrkräfte ein paar interessierte Sch. an.)


Das Vortreffen vor den Herbstferien:
Noch vor den Herbstferien setzen sich die SchülerInnen des Abigottesdienstkomitees mit den Religionslehrerinnen und der Schulpastorin zusammen, um das Thema des Gottesdienstes zu erarbeiten und verbindliche Termine (mindestens 5-6 und eine Generalprobe am Tag vor dem Gottesdienst) für die Zeit nach den Abiturprüfungen und vor der Entlassung festzulegen, denn die konkrete inhaltliche Erarbeitung des Gottesdienstes erfolgt in dieser kurzen Zeitspanne. Während des Vortreffens kommen spezielle Anliegen, Vorstellungen und Wünsche des Abiturjahrganges und besonders der am Gottesdienst beteiligten Abiturienten zur Sprache, so dass umfangreichere, zeit-aufwendigere Projekte (wie beispielsweise das Erstellen eines Videoclip oder einer thematischen power-point- Präsentation) rechtzeitig in Angriff genommen oder aber frühzeitig verworfen werden können. Es werden erste Verabredungen für die Suche nach Texten, Bildern oder Gegenständen für ein mögliches Gebet oder eine spätere Meditation passend zum ausgewählten Thema getroffen und Überlegungen bezüglich der Musik angestellt.


Die "heiße Phase" nach dem mündlichen Abitur:
Die bislang gesammelten Materialien werden gesichtet und ausgewählt. Das "Motto" des Gottesdienstes muss bis zur Verkündung der Abiturnoten durch die Schulleitung feststehen, damit die Einladung an jeden Abiturienten weitergereicht werden kann.

Die Sch. übernehmen allein, zu zweit oder in der Gruppe die Verantwortung für einzelne Teile des Gottesdienstes: Begrüßung, Gebete, Liederauswahl, Musik, Gottesdienstzettel. In der Regel besteht der von den AbiturientInnen erarbeitete Hauptteil aus einem gemeinsam entwickelten Anspiel, durch das das spezielle "Motto" des Gottesdienstes besonders plastisch und lebensnah entfaltet wird. Die Weiterführung des Themas in eine religiöse Dimension bleibt im Rahmen einer Ansprache ebenso wie der Segen in der Verantwortung der Schulpastorin in Zusammenarbeit mit den Religionslehrerinnen. Wahlweise wird das Vaterunser oder das Glaubensbekenntnis gesprochen.

Häufig wird das "Motto" des Gottesdienstes durch eine gemeinsame Aktion am Ende des Gottesdienstes symbolisch vertieft, so dass alle Abiturienten eine optische Erinnerung mit nach Hause nehmen können. Die Kollekte wird jeweils vom Vorbereitungskomitee festgelegt und diente zumeist einem lokalen Projekt.

Das existentielle Thema des Abiturgottesdienstes im Sinne einer "rite de passage" ist "Abschied (von der Schulzeit) und Aufbruch (in eine unbekannte Zukunft)" und zieht sich grundsätzlich durch jeden Abiturgottesdienst. Da aber jeder Abiturjahrgang seine eigenen Ideen und Vorstellungen hat, soll die Entwicklung und Durchführung exemplarisch am Abiturgottesdienst 2003 transparent werden.

 

2. Ein konkretes Beispiel: Abiturgottesdienst 2003

Zunächst wird die Entwicklung und dann der Ablauf des Gottesdienstes vorgestellt. Den vollständigen Gottesdienst können Interessierte im Internet nachlesen (s.u.).

 

2.1. Die Entwicklung des Gottesdienstes

Das Vortreffen im Herbst:
Die gemischtkonfessionelle Vorbereitungsgruppe bestand in diesem Jahr aus zwei Schülern und vier Schülerinnen. Das Grundthema "Abschied und Aufbruch" wurde in dieser Gruppe schnell mit dem Symbol des "Samenkorns" und mit dem Gegenstand des "Koffers" als Zeichen des Aufbruchs verbunden. Erste Verabredungen, dazu passende Koffer der unterschiedlichsten Art mitzubringen und Bilder, Texte oder Lieder zum Thema "Samenkorn" zu suchen, wurden getroffen. Zeitlich standen für die "heiße Phase" fast der ganze Mai und Juni zur Verfügung, so dass wöchentliche Treffen von ca. 2 Stunden Dauer und die "Generalprobe" am Tag vor dem Abiturgottesdienst verbindlich verabredet wurden.


Die "heiße Phase" nach dem mündlichen Abitur:
Das Motto "Ich packe meinen Koffer…" kristallisierte sich rasch in der konkreten Erarbeitung des Gottesdienstes nach dem mündlichen Abitur Anfang Mai heraus und lag als Einladung zum Abiturgottesdienst bei der Verkündung der Abiturnoten Mitte Mai der Schulleitung vor. Der Schulchor, in dem viele Abiturienten sangen, sagte verbindlich ausgewählte Lieder zu, ein Schüler des 11. Jahrgangs spielte die Orgel.

Die Erarbeitung einzelner liturgischer Teile wurde verteilt.


Begrüßung:
Zwei Schülerinnen erklärten sich dazu bereit, eine Begrüßung zu schreiben. Um dies zu erleichtern, erhielten sie Anregung durch frühere Begrüßungen. (vgl. Begrüßung im Internet)


Bildmeditation:
Zwei Schülerinnen übernahmen die Umsetzung der Idee des Samenkorns für eine Bildmeditation. Dafür pflanzten sie Senfkörner in kleine Töpfe, so dass jeder Abiturient, jede Abiturientin einen Topf erhalten konnte, und fotografierten die Entwicklung der Senfkörner zu einer ausgewachsenen Pflanze. Anschließend schrieben sie dazu eine aus Stichworten bestehende Bildmeditation, in der die Situation des wachsenden Senfkorns Assoziationen zur Schulzeit der Abiturienten von der Grundschule bis zum Abitur weckte. Im Gottesdienst wurden die Bilder mit Hilfe von "power-point" computergesteuert im Abstand von 40 Sekunden auf eine Leinwand im Altarraum geworfen und die Stichworte entsprechend dazu gesprochen (vgl. den Text im Internet).


Anspiel:
Die "Koffer-Idee" mauserte sich schnell zu einem Anspiel, denn unterschiedliche Schülertypen benötigen für ihre Zukunft ganz verschiedene Koffertypen: der angehende Businessman einen Jet-Set-Koffer, die Weltenbummlerin den praktischen Rucksack, der extravagante Typ einen auffälligen roten Lederkoffer, die angehende Mutter einen Kinderkoffer, der zukünftige Student einen abgetragenen Koffer, die Auszubildende einen modernen Reisekoffer, die Traditionalistin einen alten, großen Reisekoffer und der Alternative einen Leinenbeutel.

Entsprechend ihrer Verschiedenheit wurden die Kofferpaare zusammengestellt: alter Reisekoffer – Leinenbeutel; abgetragener Koffer – moderner Reisekoffer; Kinderkoffer – roter Lederkoffer; Rucksack – Jet-Set-Koffer. Die SchülerInnen schrieben die entsprechenden Dialoge dazu und suchten die für die Koffer typischen Utensilien (beispielsweise in den Jet-Set-Koffer der Laptop und die ausreichende Anzahl Anzüge mit passenden Hemden und Schlipsen, in den großen, alten Reisekoffer bereits bestehende Traditionen aus den Generationen davor, wie ein Arztkittel oder ein Mikroskop, in den Leinbeutel nur Zahnputzzeug und Seife, in den abgetragenen Koffer des angehenden Informatikstudenten einen Taschenrechner, ein paar Festplatten und CDs…) heraus. Als Rahmenhandlung trafen sich die SchülerInnen paarweise in einem imaginären Raum in der Schule, in dem Regale mit verschiedenen Utensilien standen und packten dort "ihre" Koffer. (vgl. dazu das Anspiel im Internet, s.u.)


Predigt:
Die Schulpastorin entwickelte mit einer Kollegin eine Dialogpredigt, in der sie das Motiv des Senfkorns im Gleichnis vom Senfkorn aufnahm. Mit Hilfe verschiedener Senfsorten (Mostrich für den extravaganten roten Koffer, Tubensenf für den Rucksack, süßer Senf für den Jet-Set-Koffer, um bayrisches Brauchtum auch im Ausland bekannt zu machen, einfaches Senfglas für den abgetragenen Studentenkoffer, ein großes Glas Markensenf für den großen Reisenkoffer) gaben sie den "eigenen" Senf dazu und entdeckten in der Senfpflanze verborgen den universalen Grundgedanken: Die Senfpflanze ist ein hervorragender Bodenbereiter, danach können andere Pflanzen sehr gut wachsen und gedeihen; ebenso kann sich kein Mensch nur ganz allein entwickeln, jeder braucht Vorgänger, die den Weg bereiten, wie Eltern, Geschwister, Freunde, Lehrer, und jeder wird einmal selbst zum Wegbereiter, der hoffentlich einen besseren Boden hinterlässt. Die Parallele zwischen Senfkorn und Mensch offenbart aber auch eine religiöse Dimension, denn so winzig klein ein Senfkorn auch sein mag, so viel traut Gott doch dem Menschen zu: 1 Millimeter das Korn, 1,50 Meter die Pflanze: das 1.500fache! (vgl. genauer in der Predigt im Internet.)


Gemeinsame Aktion:
Am Ende der Ansprache erhielten alle Abiturienten eine Senfkornpflanze als Erinnerung überreicht.


Kollekte:
Die Vorbereitungsgruppe entschied sich für ein Straßenprojekt in Hannover.


Fürbitten:
Die Schulpastorin erarbeitete ein spezielles "Abitur-Fürbittengebet", das vier Abiturienten vortrugen: (siehe Kasten)


Segen (irisches Segenswort):
Gott segne uns.

Er fülle unsere Füße mit Tanz,

unsere Herzen mit Freude,

unsere Arme mit Kraft,

unsere Hände mit Zärtlichkeit,

unsere Augen mit Lachen,

unsere Ohren mit Musik,

unseren Mund mit Jubel.

So segne uns alle der lebendige Gott.

Amen

 

2.2. Der Ablauf des Gottesdienstes:

  • Eingangslied: Chor "Freedom is coming"
  • Begrüßung
  • Lied: "Morgenlicht leuchtet"
  • Meditation: Senf – Elexir des Lebens?!
  • Chor: "Heaven is a wonderful place"
  • Anspiel: Ich packe meinen Koffer…
  • Chor: "Jesus is my salvation"
  • Evangeliumslesung: Gleichnis vom Senfkorn
  • Ansprache: "Wir geben unseren Senf dazu!"
  • Aktion: Senfpflanzen für alle Abiturienten
  • Lied: (alle) "Kleines Senfkorn Hoffnung"
  • Kollekte
  • Fürbitten, Vaterunser
  • Segen

 

Fürbitten

Abiturus sum: Ich bin weggegangen.

Abiturus es: Du bist weggegangen.

Guter Gott, wir sind Abiturientes, Weggehende. Wir bitten dich, steh uns bei, wenn jede von uns nun ihren eigenen Weg gehen wird und wir uns in unterschiedliche Richtungen entwickeln werden. Wir wissen, Kraft und Mut allein reichen nicht aus, um das zu erreichen, was wir uns für die Zukunft vorgenommen haben.

Abiturus est: Er ist fortgezogen.

Abitura est: Sie ist abgereist. Guter Gott, wir denken an unsere Eltern und Geschwister, die uns bislang begleitet haben. Sie müssen damit umgehen lernen, dass wir fortgehen oder immer wieder von zu Hause abreisen. Wir bitten dich, schenk uns Liebe und Verständnis füreinander, um die zukünftigen Veränderungen gemeinsam zu bewältigen.

Abituri sumus: Wir sind – noch einmal – aufgebrochen.

Abitures estes: Ihr seid geschieden, verflossen, entschwunden. Guter Gott, wir blicken auf unse-re Lehrerinnen und Lehrer. Wir sind nun von ihnen geschieden und werden ihrem Blickfeld entschwinden. Wir bitten dich, lass sie erneut mit Kraft und Freude zu den zukünftigen Schülergenerationen aufbrechen, um mit ihnen den Weg bis hin zum Abitur zu gehen.

Abituri sunt: Sie sind in einen neuen Lebensabschnitt übergegangen. Guter Gott, wir bitten dich für alle Menschen, vor denen neue Lebensabschnitte, neue Ziele liegen, die sie angreifen müssen, ob sie wollen oder nicht.

Wir wissen, Gott, wir sind Abiturien-tes, Weg-gehende in eine offene Zukunft. Wir können nicht mehr zurück, wir müssen unseren Weg gehen. Stärke die Zweifelnden, ermutige die Unsicheren, unterstütze die Beherzten. Dann werden wir alle an den Orten ankommen, an denen du uns brauchst. Amen


* Abiturgottesdienst am 27.06.2003 des Erich-Kästner Gymnasiums in Laatzen in der Arche der Thomasgemeinde in Laatzen, vorbereitet und durchgeführt von Schulpastorin Petra Pfaff mit Abiturienten, Abiturientinnen und Religionslehrerinnen des Erich Kästner Gymnasiums.

  





Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2004

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