Die Jugend ist in der Schule - Ganztagsschule und Evangelische Kirche

von Hans-Martin Lübking

 

Der Anstoß

Am 12. Mai 2003 haben Bundesbildungsministerin Bulmahn und Vertreter der 16 Bundesländer eine Vereinbarung über den Ausbau von mehreren tausend Ganztagsschulen unterzeichnet. Der Bund zahlt den Ländern dafür bis zum Jahr 2007 vier Milliarden Euro Investitionshilfen. Trotz der angespannten Haushaltslage des Bundes soll dieses Programm, nach Ministerin Bulmahn eines der wichtigsten Reformprojekte der Bundesregierung, nicht gekürzt werden. Auf Druck der Länder wurde die vom Bund zunächst angestrebte Zahl von 10.000 Ganztagsschulen, das wäre etwa jede 4. Schule in Deutschland gewesen, aus der Vereinbarung herausgenommen. Stattdessen ist jetzt von einem "bedarfsorientierten Ausbau" die Rede.

Der Ausbau der Ganztagsschulen ist eine von zwei bisher erkennbaren Antworten der Schul- und Bildungsministerien auf die für Deutschland wenig schmeichelhaften Ergebnisse der PISA-Studie. Die andere Antwort ist die beabsichtigte Einführung von Bildungsstandards. Zwar wird offiziell unterstrichen, dass die Ganztagsschule "kein Allheilmittel" zur Lösung der mit TIMSS, PISA und IGLU aufgedeckten deutschen Schulprobleme sei, aber die Ganztagsschule soll eben doch nach Ministerin Bulmahn einen wesentlichen "Beitrag zur Bildungsqualität und Chancengleichheit von Kindern leisten sowie die Vereinbarkeit von Elternschaft und Berufstätigkeit ermöglichen".

Umfragen belegen, dass sich die Schul- und Bildungsminister bei diesem Programm der Unterstützung einer Mehrheit in der Bevölkerung sicher sein können. Im Januar 2003 plädierten 56 Prozent der Befragten bei einer von Infratest im Auftrag des Spiegels durchgeführten Befragung (Spiegel 8/2003, 56) für die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule (mehr Frauen [61 %] als Männer [52 %]) – allerdings eindeutig auf der Basis einer Freiwilligkeit der Nutzung des Angebotes (85 %). Für die Ganztagsschule votierten mehrheitlich die Anhänger aller Parteien, auch jener, die jahrelang gegen Ganztagsschulen gestritten haben – wohl ein Reflex der veränderten bildungspolitischen Debatte seit TIMSS und PISA.

 

Die Situation

Der Deutsche Bildungsrat empfahl 1968 – überwiegend pädagogisch argumentierend – die "Einführung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen", um die sozialen Erfahrungsräume der Schüler zu verbreitern, die im 45-Minuten-Takt eingezwängte Lernschule zu überwinden, alle Schüler besser zu fördern und die Erwerbstätigkeit von Frauen zu steigern. Fünf Jahre später entwickelte der Bildungsgesamtplan der Bund-Länder-Kommission klare Perspektiven: Bis zum Jahr 1985 sollten wenigstens 15 Prozent aller Schüler ganztägig versorgt werden. Dreißig Jahre nach dieser Forderung, im Jahre 2003, gehen 6 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland auf eine Ganztagsschule – und diese machen etwa 5 Prozent aller allgemeinbildenden Schulen aus: etwa 2.200 von gut 40.000 Schulen.

Wie allgemein bekannt befinden wir uns damit in Deutschland im internationalen Vergleich eher in einer Sonderposition. Nicht nur in den PISA-Siegerländern Finnland, Kanada, Neuseeland, Südkorea, sondern auch in den meisten anderen europäischen Ländern Frankreich, England, Schweden, Belgien, Spanien, den Niederlanden und überwiegend auch in Italien, Irland und Dänemark umfasst der Schultag im Normalfall den ganzen Tag. Nicht so bekannt ist dagegen, dass

auch in Deutschland bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Schule am Vor- und Nachmittag die Normalform der Schule darstellte: Keine Ganztagsschule, sondern eine Schule mit zweistündiger Mittagspause, in der die Schüler und Lehrer zum Mittagessen nach Hause gingen, aber mit Unterricht am Vor- und Nachmittag. Aufschlussreich sind die Ursachen und Gründe, die dann zur Einführung der Halbtagsschule geführt haben. Bei den Volksschulen war es zum einen die Notwendigkeit der meisten Schüler, am Nachmittag zu Hause und in der Landwirtschaft mitarbeiten zu müssen, zum andern ein zunehmender Lehrer- und Raummangel in Verbindung mit immer größeren Klassenfrequenzen, der zur Etablierung der Halbtagsschule mit zwei Klassen und nur einem Lehrer führte. Im höheren Schulwesen veranlasste die Klage von Medizinern über die zu große Belastung von Schülern (40 volle Zeitstunden pro Woche und 20-25 Stunden Hausaufgaben) sowie das Problem der zu langen und viermal am Tag zurückzulegenden Schulwege die preußische Regierung, 1890 der Einführung von Halbtagsunterricht zuzustimmen. (Die Entwicklung von der traditionellen Ganztagsschule zur Halbtagsschule in Deutschland wird von J. Lohmann in seinem Buch "Das Problem der Ganztagsschule. Eine historisch-vergleichende und systematische Untersuchung" [Ratingen 1965] beschrieben.)

Da aber zugleich schon vor, vor allem aber nach dem Ersten Weltkrieg in der Reformpädagogik zahlreiche und unterschiedliche Schulkonzepte entwickelt wurden, die eher auf verschiedene Formen von Ganztagsschulen hinausliefen, haben wir heute die Situation, dass nicht immer ganz klar ist, was mit dem Wort "Ganztagsschule" gemeint ist: Halbtagsschule mit Nachmittagsangeboten, Ganztagsschule mit freiwilligem Nachmittag, Ganztagsschule mit verbindlichem Unterricht bis 16.00 Uhr, Schule mit Tagesheim usw. Weiterführend finde ich die Definition des "Ganztagsschulverbandes". Er unterscheidet zwei verschiedene Formen der Ganztagsschule: die gebundene und die offene Ganztagsschule. "Schülerinnen und Schüler der gebundenen Ganztagsschule sind verpflichtet, sowohl vormittags als auch nachmittags am Unterricht und den Angeboten der Schule teilzunehmen. Demgegenüber bietet die offene Ganztagsschule vormittags verbindlichen Unterricht an, während die Nachmittagsangebote auf freiwilliger Basis stattfinden." (Ganztagsschulverband 2003) In beiden Fällen wird vorausgesetzt, dass ein differenziertes pädagogisches Gesamtprogramm vorliegt, in das unterrichtliche, erzieherische und sozialpädagogische Aktivitäten einbezogen sind.

Blickt man auf die Pläne und Programme der einzelnen Bundesländer, dann wird deutlich, dass es hier durchweg um den Ausbau von "offenen Ganztagsschulen" geht, so unterschiedlich sonst auch die Akzentsetzungen in den jeweiligen Bundesländern sind. Baden-Württemberg etwa betreibt vor allem den Ausbau ganztägiger Angebote in Schulen mit schwierigeren und leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern. Der Ausbau konzentriert sich auf die Hauptschule. Rheinland-Pfalz ist am weitesten: Zum nächsten Schuljahr (2004/2005) werden dort insgesamt 300 neue Ganztagsschulen eingerichtet sein: 120 Grundschulen, 60 Hauptschulen, 40 Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen und jeweils 2 Schulen der Sekundarstufe I pro Landkreis und kreisfreier Stadt. In Nordrhein-Westfalen schließlich soll bis zum Jahr 2007 ein Viertel aller 3.400 Grundschulen mit 200.000 Plätzen zu "Offenen Ganztagsschulen" ausgebaut werden. Durch Bündelung der "Kräfte von Schule, Jugendhilfe und weiteren Trägern im Umfeld von Schule" entstehen dabei allerdings eher Halbtagsschulen mit angedockter Betreuung, Hausaufgabenhilfe, Neigungskursen und pädagogischer Freizeitgestaltung am Nachmittag – und das alles auf freiwilliger Basis mit einem Elternbeitrag bis zu 100 Euro. Es ist deutlich, dies ist nicht die Ganztagsschule mit der Verteilung des Unterrichts auf Vor- und Nachmittag, mit der Aufgabe des 45-Minuten-Taktes, mit einem einheitlichen pädagogischen Konzept und mit einem rhythmisierten Schulalltag bis 16.00 Uhr. Nüchtern wird man feststellen müssen, dass die flächendeckende Einführung solcher Ganztagsschulen zur Zeit einfach nicht bezahlbar ist. Allein bei einer Ganztagsgrundschule muss man mit 30-40 Prozent Personalmehrkosten jährlich rechnen. Hinzu kommen weitere erhebliche Aufwendungen für Räume, Mensabetrieb, Umbaumaßnahmen und Materialien. Ausgebaut wird zur Zeit das Machbare, nicht das Wünschbare.

 

Sozialpolitische Argumente

Bis zur Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse dominierten in der Diskussion um die Ganztagsschule die sozialpolitischen Argumente. Schulpädagogische Argumente wurden gerade auch von den Befürwortern eher als ein "positiver Randeffekt" angemerkt. Im Vordergrund stand vielmehr der Hinweis auf den tiefgreifenden Wandel der Institution Familie.

Familie und Beruf
Die Familie, die aus einem erwerbstätigen Vater, einer die Kinder zu Hause betreuenden Mutter und zwei oder mehr schulpflichtigen Kindern besteht, ist nicht mehr das vorherrschende Modell familialer Wirklichkeit. Sechzig Prozent aller Mütter arbeiten heute außer Haus, in Vollzeit oder Teilzeit. Die Ganztagsschule kann vor diesem Hintergrund dazu beitragen, Familie und Beruf besser zu vereinbaren. Und in der Tat konnte bei Untersuchungen ein Zusammenhang zwischen der Intensität der Kinderbetreuung und der Erwerbsbeteiligung von Müttern nachgewiesen werden.

Alleinerziehende Eltern
Eine weitere Veränderung des traditionellen Familienbildes betrifft die steigende Anzahl von Ein-Eltern-Familien. Mittlerweile sind etwa 23 Prozent der Familien mit Kindern Ein-Eltern-Teil-Familien. Knapp 20 Prozent der Kinder in Deutschland wachsen in diesen Familienformen auf. Besonders diese Familien sind für ihre Erwerbstätigkeit auf eine geregelte Unterbringung der Kinder während der Arbeitszeit angewiesen. Das immer noch völlig unzureichende Angebot an Tageseinrichtungen für kleinere und größere Kinder hat zur Folge, dass eine große Anzahl gerade dieser Eltern gezwungen ist, selbstständig Lösungen für die Kinderbetreuung zu suchen – und das ist häufig sehr anstrengend, kompliziert und auch teuer.

Mahlzeiten
In einer Ganztagsschule bekommen Kinder eine regelmäßige und ordentliche Mahlzeit. Wer die zum Teil chaotischen Ernährungsverhältnisse unter Kindern und Jugendlichen kennt – jedes sechste Kind hat deutlich Übergewicht, zu hohe Cholesterinwerte oder leidet unter Bluthochdruck –, weiß, welch segensreiche Wirkungen eine regelmäßige und ernährungswissenschaftlich abgestimmte Schulmahlzeit bei Kindern und Jugendlichen auslösen könnte.

Nachmittagsangebot
Jedes dritte Kind in Deutschland verbringt seinen Nachmittag allein mit sich und seinen besten Freunden: dem Fernseher und dem Computer. Viele Kinder haben ein Defizit an sozialen Kontakten und Erfahrungen. An einer Ganztagsschule erlebt man Mitschüler und Lehrer nicht nur im Unterricht, sondern auch beim Essen, in der Bibliothek, in Interessengruppen und bei der gemeinsamen Freizeit. Die Ganztagsschule ist ein Ort, an dem Schülerinnen und Schüler über den Unterricht hinaus Kontakte mit anderen Kindern und Jugendlichen knüpfen und ihre sozialen Kompetenzen erweitern können.
In sozialpolitischer Perspektive kann die Ganztagsschule als ein breites und vielfältiges Angebot der Kinder- und Familienpolitik verstanden werden: Sie käme vor allem den sozial benachteiligten Familien zugute und würde Kindern und Jugendlichen eine Erweiterung ihres sozialen Kontaktbereiches ermöglichen.

 

Bildungspolitische Argumente

Seit der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse sind in der Diskussion um die Ganztagsschule wieder stärker schulpädagogisch und bildungspolitisch orientierte Argumente in den Vordergrund gerückt. Auch hier fasse ich die wichtigsten Argumente zusammen:

Förderung
Mit Hilfe ganztägiger Angebote kann die Schule Schülerinnen und Schüler in ihren individuellen Stärken und Schwächen besser fördern. PISA hat ja gezeigt, dass die Förderung von lernschwachen Kindern, besonders von Kindern aus Zuwanderungsgruppen, in den meisten Ländern besser gelingt als in Deutschland. Gerade für leistungsschwächere Schüler kann die Ganztagsschule eine Palette von speziellen Unterstützungsangeboten entwickeln.

Integration
PISA hat auch gezeigt: In Deutschland sind die schulischen Leistungsunterschiede so stark wie in keinem anderen Land durch die soziale Herkunft bedingt. Auch auf dieses Problem kann man mit den Möglichkeiten einer Ganztagsschule anders reagieren: Zum Einen bieten Bibliotheken, Medienräume und Medienangebote, vielfältige AGs und Freizeitangebote sowie Kontakte zu außerunterrichtlichen Partnern auch den Kindern aus bildungsfernen Familien eine Vielzahl von kompensatorischen Anregungen und Anreizen. Zum anderen verlagern Ganztagsschulen in der Regel einen Großteil der schulbezogenen Elternmitarbeit in die Schule hinein. Am Beispiel einer Eltern-Cafeteria an der Schule: Hier arbeiten nicht selten Eltern aus unterschiedlichen sozialen Herkünften zusammen.

Soziale Gerechtigkeit
Unbestreitbar sorgen Ganztagsschulen für mehr Gerechtigkeit: Privatschulen, Internate, vor allem aber Nachhilfeunterricht können sich nicht alle leisten. Ganztagsschulen lassen mehr Zeit und Raum, auf schwache Leistungen mit mehr individueller Förderung zu reagieren.

Außerschulische Projekte
Viele Kinder und Jugendliche leben heute im Ghetto der Gleichaltrigen, ja sie kennen manchmal nur ihre Jahrgangsstufe. Mit anderen erwachsenen Lebenswirklichkeiten werden sie live kaum konfrontiert. Sie werden im Zustand ewiger Vorbereitung auf das eigentliche Leben gehalten. Ganztagsschulen bringen Schüler mit anderen Erwachsenen zusammen, sie ermöglichen Erkundungen und Projekte, an denen Schülerinnen und Schüler mit Erwachsenen zusammenarbeiten und Verantwortung übernehmen können.

Innere Schulreform
Vor allem aber wird immer wieder argumentiert, dass Ganztagsschulen eine bessere Voraussetzung zur Realisierung von Forderungen nach innerer Schulreform bieten: Handlungs- und erfahrungsorientiertes Lernen, die Aufhebung des 45-Minuten-Takts, fächerübergreifender Unterricht, Projektunterricht oder die Einführung neuer Lerninhalte seien in einer Ganztagsschule eher möglich. Besondere Bedeutung gewinnt dabei die Gliederung des Schulalltags, durch die unterrichtliche und außerunterrichtliche, freie und gebundene Angebote dem jeweiligen Lern- und Leistungsrhythmus der Schüler besser angepasst werden könnten.

Hält die Ganztagsschule, was sie verspricht? Vor kurzem ist eine Studie von Eckhard Klieme und Falk Radisch erschienen (Deutsches Institut für internationale Pädagogische Forschung. Frankfurt/M. 2003), in der beide die bisher erschienene Literatur nach Aussagen über die "Wirkung ganztägiger Schulorganisation" untersucht haben. Das Ergebnis war unbefriedigend, denn es existiert so gut wie keine empirische Forschung zu Ganztagsschulen. Beide Forscher äußerten allerdings einige Vermutungen und eine davon möchte ich hier wiedergeben: Ganztagsschulen können sich positiv auf die soziale Integration und das Schulklima auswirken. Ich erwähne es deshalb, weil ich dies als Elternvertreter und Vater zweier Kinder, die eine Ganztagsgesamtschule besucht haben, nachdrücklich unterstreichen kann. Durch verschiedene Elternaktivitäten lernte ich eine ganze Reihe von türkischen und marokkanischen Elternkollegen kennen, bei den Angeboten des Schulsportvereins spielten Schüler, Eltern und Lehrer miteinander, die besten Freundinnen meiner Tochter waren allesamt ausländische Mädchen und ich konnte erleben, dass Schülerinnen und Schüler das Abitur machten, deren Eltern kaum Deutsch konnten und denen ich dies bei ihrer Einschulung nie zugetraut hätte.

 

Die Ganztagsschule kann Schule verändern

Eine Ganztagsschule ist mehr als eine verlängerte Halbtagsschule, besser sollte ich vielleicht sagen: Sie soll möglichst mehr sein als eine verlängerte Halbtagsschule. Sie könnte eine veränderte Schule sein. Was sich hier verändern könnte, ist schon bei der Aufzählung der sozial- und bildungspolitischen Argumente für die Ganztagsschule angeklungen. Ich möchte jetzt, zusammenfassend, eher knapp und ohne Anspruch auf Vollständigkeit noch einige Stichworte zusammentragen, die Veränderungen anzeigen, was den Schulalltag und was die Beteiligten angeht – die Lehrerinnen und Lehrer, die Eltern und die Schülerinnen und Schüler –, weitgehend wünschenswerte Veränderungen.

  1. Mir fällt auf, dass die Schulen, die von sich reden gemacht haben, soweit ich sie kenne, zum größten Teil Ganztagsschulen sind. Das ist wahrscheinlich kein Zufall. Eine Ganztagsschule bietet bessere Voraussetzungen für eine profilmäßige Schwerpunktsetzung – z.B. im musisch-kreativen Bereich durch die Kooperation mit Musik- und Tanzschulen, mit Kirchenmusikern und Jugendkunstschulen usw. Nur als reine Lernschule, das sage ich gegen einen unverkennbaren gegenwärtigen Trend, kann eine Schule heutige Schülerinnen und Schüler nicht mehr erreichen. Nur als Haus des Lernens und Lebens kann sie m.E. ein zukunftstaugliches Profil entwickeln.
  2. Schüler und Lehrer können nur dann einen Tag, in der Regel 8-9 Stunden, in der Schule zubringen, wenn sie dort Räume, Bedingungen und ein Ambiente vorfinden, in dem sie sich auch einigermaßen wohlfühlen können. Noch gibt es aber viele unwirtliche Schulen, ewige Baustellen, schlecht ausgestattete Klassenräume, marode Turnhallen und fehlende Arbeitsplätze in den Schulen. Kein Wunder, dass mittags alles wie von der Tarantel gestochen nach Hause strebt oder viele Schüler im Klassenraum ihre Jacken und Mützen gar nicht abnehmen wollen, weil sie in der Schule gar nicht "ankommen". Eine Ganztagsschule funktioniert nur mit entsprechenden Räumen.
  3. Eines der Hauptprobleme des gegenwärtigen Schulalltags ist das Fehlen von Zeit. Es fehlt an Zeit für die kollegiale Zusammenarbeit der Lehrer in fachlichen Fragen, an Zeit für gemeinsame Abklärungen von allgemein pädagogischen Umgangsformen und Verhaltensregeln des Schullebens, an Zeit für organisatorische Absprachen, vor allem an Zeit für Schüler über den Unterricht hinaus – denn nicht erst PISA hat gezeigt: Viele Lehrerinnen und Lehrer kennen ihre Schülerinnen und Schüler nicht. Zeit ist eines der entscheidenden Themen der Schule. Die Ganztagsschule bietet mehr Zeit.
  4. Die leistet dies unter einer Voraussetzung: Wenn die Schulzeit bis 16 Uhr für alle obligatorisch ist. Die genannten bildungstheoretischen und schulpädagogischen Erwartungen und Vorstellungen können nur in einer für alle Schülerinnen und Schüler verbindlichen Ganztagsschule verwirklicht werden. Das ist meine Überzeugung – und das heißt: Eine "offene Ganztagsschule" empfinde ich eher als eine finanzbedingte Zwischenlösung.

 

Was bedeutet das für Lehrer, Eltern und Schüler?

  • Wenn die Ganztagsschule mehr Zeit für die Abstimmung der Lehrer untereinander und für die Verbesserung der Beziehungen zu den Schülern bieten soll, müssen Lehrerinnen und Lehrer zwar nicht die alleinigen, aber die tragenden Säulen der Nachmittagszeit sein. Die Notwendigkeit veränderter Präsenzzeiten in der Schule liegt auf der Hand. Dass dies intelligent zu regeln ist und nicht unbedingt mit einer Ausweitung der Lehrerarbeitszeiten verbunden sein muss, zeigt das Beispiel anderer Länder, vor allem der skandinavischen.
  • Ganztagsschulen benötigen und ermöglichen ein anderes Teamwork unter den Lehrerinnen und Lehrern. Dass bei der Teamfähigkeit von Lehrern manches im Argen liegt, wissen wir nicht nur aus eigenen Erfahrungen, sondern auch aus Untersuchungen. Eine Ganztagsschulleiterin: "Es ist unmöglich, ein widerwilliges Kollegium zu überzeugen." Und ein Kollege: "Mit der jetzigen Lehrergeneration lassen sich 10.000 Ganztagsschulen niemals durchsetzen." Wird er Recht behalten? Ohne Zweifel erzieht eine Ganztagsschule zur Teamfähigkeit.
  • Über 50 Prozent der Eltern plädieren für die Einführung der Ganztagsschule. Das stärkste Interesse besteht an einer "verlässlichen Versorgung" der eigenen Kinder. Doch im Blick auf die Eltern bedeutet die Ganztagsschule vor allem: intensivere Mitwirkung. Ich bin elf Jahre Klassen- und Schulpflegschaftsvorsitzender an einer Ganztagsschule gewesen und weiß, wovon ich rede. Mittags- und Essensangebote, die Cafeteria, viele Arbeitsgemeinschaften, Musikgruppen, Ausstellungen und besondere Nachmittage, die Schulzeitung und der Schulsportverein – ohne die an vielen Stellen mitwirkenden Eltern funktioniert eine Ganztagsschule nicht.
  • In Deutschland ist, vereinfacht gesagt, die Erziehung eher Sache der Familie, die Bildung eher Sache des Staates. Das hat nicht nur, aber auch mit der vorherrschenden Halbtagsschule zu tun. In Frankreich, England und den USA sind Erziehung und Bildung traditionellerweise sehr viel stärker eine Angelegenheit der Schule. Eine Ganztagsschule kann eine wesentlich größere Rolle für die Sozialisation und Erziehung von Kindern und Jugendlichen spielen. Das muss aber nicht auf Kosten der Eltern oder der Familie geschehen. Die Ganztagsschule kann die elterliche Erziehung nicht ersetzen, aber sie kann sie besser ergänzen.
  • Für die Schülerinnen und Schüler spielt die Schule heute eine Schlüsselrolle bei der Konstituierung ihrer eigenen Lebenswelt. Für viele ist sie aber auch ein Ort erheblicher Belastungen: Der hohe Erwartungsdruck der Eltern, eigene Versagenserlebnisse (Deutschland ist, wie PISA gezeigt hat, "Weltmeister im Sitzen bleiben"!), das Konkurrenzverhältnis zu anderen, die Erfahrung des Ausgeschlossenseins und des Nicht-Mithalten-Könnens, fehlende familiäre Unterstützung – es kann vieles zusammenkommen. Aus Befragungen weiß man, dass die Schulerfahrungen häufig gerade nicht zur Stärkung des eigenen Selbstwertgefühls beitragen. Schüler brauchen jedoch eine Schule, die mehr ist als eine Lernschule und auch einen emotional stabilen Rückhalt bieten kann. Sie brauchen eine Schule, die ihnen Erfolgserlebnisse ermöglicht, sportliche, musische, artistische oder andere Auftritte, so dass sie auch mal ihre Fähigkeiten und Talente präsentieren können. Hierfür bietet eine Ganztagsschule mehr Raum und mehr Gelegenheit.
  • Zugleich ist die Ganztagsschule, wie aktuelle Befragungen zeigen, aber nicht bei allen Schülerinnen und Schülern beliebt. Etwa die Hälfte ist gegen die Ganztagsschule, ältere Schüler mehr als jüngere. Lese ich zugleich, dass etwa 15 Prozent aller älteren Schüler nach eigenen Angaben (die vermutete Zahl liegt wesentlich höher!) während der Schulzeit einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachgehen, wird die Ablehnung der Ganztagsschule erklärbar. Diese Ablehnung spricht aber eher für die Ganztagsschule. Nicht erst seit PISA ahnen wir, dass die deutsche Schulmisere auch etwas mit der fehlenden Akzeptanz von Lernen, Bildung, Lesen, Wissen und Kulturaneignung unter vielen Schülerinnen und Schülern zu tun hat. Es liegt nicht alles nur an fehlgesteuerter Schulentwicklung, uninteressanten Lerninhalten oder mangelnder Methodenkompetenz bei den Unterrichtenden, wir brauchen auch eine andere Professionalität bei den Schülerinnen und Schülern. Für die Schülerinnen und Schüler, die 8 oder 9 Stunden zu einer Ganztagsschule gehen, ist die Schule ihr Arbeitsplatz und ihr Schüler-Sein ihr Beruf. Beides kann man nur wahrnehmen mit einer professionellen Einstellung.

 

Die Ganztagsschule und die evangelische Kirche

Entscheidend für das Verhältnis zur oder die Beteiligung an der Ganztagsschule kann für die Evangelische Kirche nicht in erster Linie die Rücksichtnahme auf ein Eigeninteresse sein. Die heute in allen Teilen der Gesellschaft übliche Frage: "Was springt für mich bzw. für uns dabei heraus?" darf bei der Ganztagsschule auf keinen Fall im Vordergrund stehen. 1958 hat die EKD-Synode in Berlin-Weißensee feierlich erklärt: "Die Kirche ist zu einem freien Dienst an einer freien Schule bereit." Diese Erklärung ist bis heute maßgeblich. Für die Ganztagsschule folgere ich daraus: Wenn Ganztagsschulen mehr als Halbtagsschulen dazu beitragen können, dass Kinder und Jugendliche in ihren Potentialen stärker gefördert werden, vielfältige Anregungen zur Bildung ihrer geistigen und körperlichen, kognitiven und kreativen Fähigkeiten erhalten, die Schule als emotionalen Rückhalt und als Ort verbesserter Chancengerechtigkeit erleben können, dann kann die Evangelische Kirche die Ganztagsschule zur unterstützen – um der Kinder und Jugendlichen willen – und von sich aus die Zusammenarbeit anbieten.

Ich habe dies so entschieden an die erste Stelle gerückt, weil ich nun doch aufzeigen möchte, wie die Kirche m.E. von der Präsenz in der Schule, gerade auch in der Ganztagsschule, profitieren kann.

 

a) Die Kinder und Jugendlichen sind heute in der Schule

An keinem Ort kommen jeden Tag so viele Menschen zu

Schulen. Jeden Vormittag sind es gut 10 Millionen Schülerinnen und Schüler und ca. 780.000 Lehrerinnen und Lehrer. Nimmt man die Hochschulen noch hinzu, so kann man sagen: Fast 20 Prozent aller Einwohner Deutschlands, jeder fünfte, lebt, lehrt, lernt täglich in öffentlichen Bildungseinrichtungen. Wenn die Kirche bei den Menschen sein will, nirgendwo kann sie es mehr sein als hier. Die Präsenz der Kirche in der Schule ist das elementarste Beispiel kirchlicher Weltverantwortung.

Bei einer repräsentativen Befragung, welchen Institutionen ein wesentlicher Beitrag zur Gestaltung der Zukunft zugetraut wird, landete die Kirche auf einem der letzten Plätze. Ihre Zukunftsfähigkeit kann die Kirche nur dann wieder erlangen, wenn sie verlorenes Terrain bei Kindern und Jugendlichen zurückgewinnt. Wenn die Kirche bei Kindern und Jugendlichen sein will, dann kann sie es nirgendwo besser sein als in der Schule. Denn Kindheit und Jugend ist heute, noch anders als vor 30 Jahren, weitgehend zur Schulzeit geworden. Für die große Mehrheit vor allem der Jugendlichen bestimmt die Schule den täglichen Lebensrhythmus. Sie ist ihr Arbeitsplatz. 1960 waren 19 % der weiblichen und 23 % der männlichen 16-Jährigen noch in Vollzeitschulen, 1995 waren es schon 75 % und 71 %. 1950 gab es 100.000 Studentinnen und Studenten, 1970 etwa 400.000 und heute ca. 2 Millionen. Diese "Bildungsexpansion" haben nicht, wie es einmal intendiert war, die Arbeiterkinder gewonnen, sondern die Kinder aus der Mittelschicht – und darin ganz besonders die Mädchen.

Jugend ist heute Schulzeit und Jugend und Schule sind zugleich zur Zukunftswerkstatt der Gesellschaft geworden. Denn die Verlängerung der Schul- und Ausbildungszeit und damit die Möglichkeit, viel länger als früher in Gleichaltrigengruppen und Cliquen zusammenzubleiben, hat erst eine eigene Jugendkultur möglich gemacht. In Mode, Musikgeschmack, Freizeitverhalten und Lebensgefühl prägen Gleichaltrigengruppen den Lebensstil weit über die Jugendzeit hinaus. Jugendliche sind heute die Trendsetter der Gesellschaft. Sie haben das Spiel gewonnen. Nach einigen Jahren übernehmen in der Regel auch die Erwachsenen, was Jugendliche ihnen vorgemacht haben. Die Schule aber ist das eigentliche Experimentierfeld für diese Jugendkultur. Sie ist für Jugendliche heute als Kontaktbörse, als Freundestreff, als Markt der Jugendkultur, kurz als "Lebensort" oft wichtiger denn als Lernort. Will die Kirche wissen, wie Jugendliche heute denken und was morgen dran sein wird, dann muss sie in der Schule präsent sein. Denn die Schule ist die Zukunftswerkstatt.

Schule und Kirche, das sind zwei große Institutionen in unserer Gesellschaft, die in vielfältiger Weise aufeinander bezogen sind und miteinander kooperieren bzw. kooperieren sollten. Faktisch profitiert dabei die Kirche mehr von der Schule als umgekehrt. Denn in keinem Land sind die Chancen für eine Präsenz der Kirche in der Schule besser als in Deutschland. Die Schule ist der einzige nichtkirchliche und doch öffentliche Raum, in dem Religion und christlicher Glaube regelmäßig und institutionell thematisiert werden. Jede Woche wird beispielsweise allein in NRW an mehr als 3.300 Schulen Religionsunterricht erteilt, von staatlichen Lehrkräften, in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften. Das ist ein Modell, um das uns viele Kirchen anderer Länder beneiden. Der Staat beschränkt die religiöse Unterweisung nicht auf kirchliche Räume, sondern bietet jungen Leuten unter Mitwirkung der Kirchen an, im neutralen Raum der Schule eine eigene religiöse Haltung zu finden, auszudiskutieren und einzuüben. Für die Kirche ist das eine riesige Chance, ihre Bildungsverantwortung auch im öffentlichen, im nichtkirchlichen Raum wahrzunehmen. Haben wir diese Chance in der Kirche wirklich begriffen?

 

b) Erste Erfahrungen der Evangelischen Kirche mit der "offenen Ganztagsschule"

Als in Nordrhein-Westfalen erste Entwürfe der "offenen Ganztagsschule" bekannt wurden, fielen die Reaktionen gerade bei Lehrern und z.B. bei kirchlichen Jugendreferenten eher zwiespältig aus. Viele Jugendreferenten sagten: "Wir sind nicht dazu da, das zu reparieren, was Schule kaputt macht." Nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer antworteten: "Die spielen am Nachmittag Basketball auf dem Schulhof, was hat das denn mit einer qualifizierten Förderung zu tun?" Mit einer gegenseitigen Kultivierung von Klischees wird man hier jedoch nicht weiterkommen. Dass Schule und in diesem Fall kirchliche Kinder- und Jugendarbeit durchaus kooperieren können, ist inzwischen allen bewusst geworden. In Nordrhein-Westfalen hat die "offene Ganztagsgrundschule" vor 14 Tagen an 240 Schulen erst begonnen, Erfahrungen liegen noch nicht vor. Wohl aber aus Rheinland-Pfalz, dem bundesweiten Vorreiter der Ganztagsschul-Initiative. Ich fasse einige Zwischenergebnisse nach dem ersten Schuljahr mit der Ganztagsschule zusammen: Auf der Seite der evangelischen Kirchen überwiegen die positiven Erfahrungen. Dort, wo die Schulen mit den Kooperationspartnern ein tragfähiges pädagogisches Konzept ausgearbeitet haben und die Kommunikation zwischen den verschiedenen Berufsgruppen gepflegt wird, ist die Zufriedenheit bei allen Beteiligten hoch. Eine nicht unwesentliche Rolle spielen dabei die kommunikativen Seiten des Mittagessens und eine funktionierende Hausaufgabenbetreuung. In Rheinland-Pfalz sind die evangelischen Landeskirchen der größte Kooperationspartner von Ganztagsschulen für die Gestaltung der Schulnachmittage. Sie stellen 45 Prozent der pädagogischen Angebote unter den elf kooperierenden Verbänden. Dabei hat sich gezeigt, dass Kooperationsverträge nicht mit einzelnen Gemeinden, sondern mit größeren Einrichtungen wie etwa dem Landesjugendpfarramt, dem Christlichen Jugenddorfwerk oder dem Kindertagesstättenverband abgeschlossen worden sind. Interessant ist ebenfalls, dass etwa neben erlebnispädagogischen Projekten kirchenmusikalische Angebote von den Schulen sehr nachgefragt wurden.

Abgesehen von nicht überraschenden Anlaufschwierigkeiten werden nach einem Jahr aber auch konzeptionelle Probleme erkennbar: Wenn Schulen zu Lebensräumen umgestaltet werden sollen, müssen verbindliche pädagogische Mindeststandards entwickelt werden. Auch ist eine Veränderung des starren 45-Minuten-Zeitkonzepts unerlässlich. Projektarbeit z.B. erfordert eine andere Zeitstruktur. Wenn die außerschulischen Partner wesentlich zum Gelingen der "offenen Ganztagsschule" beitragen sollen, muss auch gewährleistet sein, dass deren pädagogische Fachkräfte an bestimmten Schulkonferenzen mitwirken können. Schließlich erweist sich, das wird auch für NRW zutreffen, die finanzielle Ausstattung vielfach als zu knapp. Bei der momentanen finanziellen Ausstattung besteht die Gefahr, dass der Betreuungsaspekt zu stark in den Vordergrund rückt und "billige" Lösungen gesucht werden, die zu Lasten der Qualität gehen.

 

c) Kooperationskriterien

Aufgrund der bisherigen Erfahrungen v.a. in Rheinland-Pfalz, aber auch in der Vorbereitungsphase in NRW haben sich einige Kriterien für die Kooperation von Schule und Kirche als ganz wesentlich herausgestellt. Zunächst: Es muss alles auf eine saubere vertragliche Basis gestellt werden. Rheinland-Pfalz war hier vorbildlich. Hier haben die Evangelischen Kirchen mit dem Land eine Rahmenvereinbarung über den Abschluss von Dienstleistungs- oder Kooperationsverträgen für die Ganztagsschule abgeschlossen. Darin ist z.B. festgelegt, dass seitens der Evangelischen Kirchen nur pädagogisches Fachpersonal zum Einsatz kommt, um einen hohen Bildungsstandard sicherstellen zu können. Die Rahmenvereinbarung regelt auch die Aufwandserstattung, die Vertretungspflicht oder die Beteiligungsrechte.

Für die Kooperation unverzichtbar ist ferner die gleichberechtigte Mitwirkung bei der Erstellung eines pädagogischen Gesamtkonzeptes für die einzelne Schule. Daraus ergeben sich in der Regel pädagogische Qualitätskriterien für die Angebote der außerschulischen Kooperationspartner. Ein wichtiger Punkt für viele kirchliche Partner ist die Frage, inwieweit sie ihr Angebot in eigener Regie durchführen können. Wenn das Angebot in das pädagogische Konzept passt und den Qualitätskriterien entspricht, muss es auch in eigener Verantwortung gestaltet werden können.

Nicht nachvollziehbar ist es dagegen, wenn die kirchlichen Partner ihre oft sehr begrenzten finanziellen Ressourcen in die Gesamtfinanzierung des Ganztagsschulangebotes einbringen sollen. Als eine Fehlentwicklung betrachte ich es auch, wenn gewisse außerschulische Partner sich als Monopolisten verstehen und ein Rundum-Versorgungs-Paket für den Schulnachmittag anbieten statt sich an einem pluralen Angebot zu beteiligen.

In Rheinland-Pfalz bleiben die Termine und Zeiten für den Konfirmandenunterricht der Dreizehn- und Vierzehnjährigen auch in der "offenen Ganztagsschule" geschützt. Klugerweise haben die Kirchen eine Einbindung des Konfirmandenunterrichts in die Ganztagsschule als außerunterrichtliches Angebot abgelehnt. Der Konfirmandenunterricht ist eine Veranstaltung der Gemeinde und muss auch in der Gemeinde stattfinden.

 

d) Die Ganztagsschule und die kirchliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

Als in den letzten Jahren der Ruf nach der Ganztagsschule wieder lauter wurde, erhoben sich im kirchlichen Lager sofort warnende Stimmen, die von gravierenden Belastungen für die kirchliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen durch die Ganztagsschule sprachen. Wird der Gestaltungsspielraum für kirchliche Angebote nicht allein schon im Blick auf die Zeitressourcen der Kinder und Jugendlichen viel enger? Auch wenn der zeitliche Spielraum etwas enger werden mag, glaube ich nicht, dass die Ansprechbarkeit der Kinder und Jugendlichen für kirchliche Angebote darunter leiden muss. Es gibt auch eine intensive kirchliche Jugendarbeit in den vielen Nachbarländern, die alle eine Ganztagsschule haben. Aus Finnland liegen darüber mehrere Berichte vor, in einem Schweizer Kanton mit Ganztagsschule habe ich es selbst erlebt. Im Gegenteil! Ich sehe in der personalen Präsenz der Kirche in der Schule eher eine Chance für die Kinder- und Jugendarbeit. Sie muss nicht mehr warten, bis die Kinder und Jugendlichen kommen. Sie geht dorthin, wo die Kinder und Jugendlichen sind. Und zwar viel mehr und noch ganz andere als die, mit denen sie sonst in kirchlichen Räumen in Kontakt kommt. Gerade für die ansonsten sehr häufig schulform- und milieuspezifische kirchliche Jugendarbeit ist die Kooperation mit der Ganztagsschule eher eine Chance für eine nötige Neuorientierung ihrer Arbeit.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2004

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