Religion – Identität – Differenz

von Dietrich Korsch

 

Vortrag gehalten am 30.10.2002 in Loccum anlässlich der Verabschiedung von Vizepräsident Ernst Kampermann als Schul- und Bildungsreferent
 

Mit dem Religionsbegriff hat es eine besondere Bewandtnis. Er löst verschiedene, oft widersprüchliche Gefühle aus - und ist unverzichtbar. Dieser Beobachtung möchte ich zuerst nachgehen.

 

 

Die Religion - ein ungeliebter Begriff

Der Begriff 'Religion' wird wenig geliebt. Berüchtigt ist Karl Barths Diktum, "Religion sei Unglaube" - ein Ausspruch von epochemachender Kraft. Freilich meist wird unterschlagen, dass gleich im Anschluss in demselben § 17 der Kirchlichen Dogmatik von "der wahren Religion" die Rede ist, die der christliche Glaube sei. Weniger im Blick ist die Zurückhaltung des späteren Schleiermacher gegenüber dem Begriff. Der emphatische Redner über die Religion hat in der Glaubenslehre 1821 vorgeschlagen, "dieser ganzen Terminologie (der Religion) zu entrathen" (Der christliche Glaube, 43). Aus zwei Gründen: Weil sie weder zwischen "innerer" und äußerer" Religion, also zwischen Gemütszuständen und religiöser Organisation, sicher zu unterscheiden vermöchte - noch zwischen "natürlicher" und "positiver" Religion, also dem aufklärerisch-philosophischen Konstrukt und den geschichtlich wirklichen Existenzweisen von frommen Gemeinschaften. "Frömmigkeit" heißt der alternative Begriff Schleichermachen bekanntlich in der Glaubenslehrenslehre - ein schönes Wort, das freilich heute der Erläuterung bedarf.

Wenig geliebt wird der Begriff "Religion" – und das muss immer wieder überraschen – auch und gerade von denen, die ihre Profession doch mit ihm bezeichnen, nämlich von den Religionswissenschaftlern. Sie scheuen sich in einer beinahe magisch zu nennenden Weise vor einer begrifflichen Bestimmung dessen, worum es ihnen in ihrem historischen und ethnographischen Material doch zu tun ist. Diese Zurückhaltung hat einerseits einen guten Grund in der historischen Vielfalt dessen, was als "Religion" auftritt, und hat gewiss auch darin ihren Anhalt, dass ein schlichter Oberbegriff über dem Phänomenbestand nicht zu finden ist. Andererseits muss doch auch die Religionswissenschaft sagen, welche Phänomene denn in den Aufmerksamkeitsbereich ihrer wissenschaftlichen Beobachtung fallen und warum.

 

 

Religion – ein umstrittener Begriff

Da, wo man sich überhaupt auf den ungeliebten Begriff einlässt, ist er sofort umstritten. Lässt sich "Religion" über den Gottesbegriff definieren? Das ist erkennbar zu eng. Oder ist "das Heilige" ein Zugang? Aber besitzt dieses substantielle Identität? Ist es in allen Religionen dasselbe? Und wie sieht es mit den zur Religion gehörigen Riten und Handlungen aus? Wie mit der Prägung des Lebens durch religiöse Vorstellungen und Normen? Vielleicht ist es auch diese unausgeglichene Vielzahl möglicher Zugänge und Aspekte, die die religionswissenschaftliche Skepsis dem Begriff gegenüber motiviert.

Dabei habe ich noch nicht den vielleicht schärfsten Einwand gegen den Religionsbegriff im religionswissenschaftlichen Sinn genannt: seine Positionalität als ein Begriff der abendländischen Kultur. Mit "Religion", so lautet die Meinung, wird eo ipso ein Konzept verfolgt, das sich an der okzidental-jüdisch-christlichen Auffassung von der Maßgeblichkeit der Innerlichkeit, des Subjekts, orientiert. Es ist daher von vornherein für andere Formen von "religiöser" Vergemeinschaftung ungeeignet, ja setzt den westlichen Kulturimperialismus nur noch einmal in der Wissenschaft fort. Auch daran mag etwas Richtiges sein – wenn man nur auch in Rechnung stellt, dass es nirgendwo ungeschichtliche, kontextfreie Begriffe gibt.

Ungeliebt, umstritten, partikular – die Vorbehalte und Einwände gegen den Begriff "Religion" sind nicht zu übersehen. Und doch gibt es einen ganz praktischen und durchschlagenden Grund für die Unverzichtbarkeit des Begriffs – und das ist der Religionsunterricht an unseren öffentlichen Schulen. Warum?

 

 

Religion – in der Schule

Wenn wir davon ausgehen, dass der schulische Unterricht (und der Lebensraum Schule insgesamt) dazu dienen soll, durch den Erwerb von Kenntnissen und das Aneignen von Haltungen zu einer aktiven und gestaltenden Teilnahme an unserer Gesellschaft zu befähigen, dann stellt sich sofort die Frage nach der Auswahl dieser Kenntnisse und Haltungen. Der Umfang der Kenntnisse wird durch die Lage der Wissenschaft und durch die Anforderungen der technischen Weltbewältigung bestimmt: immer intensiver müssen deshalb die Elementaria so konzentriert werden, dass sie an die aktuellen Erfordernisse heranführen. Der Bestand der Haltungen ergibt sich – aus der Tradition (und kann sich aus gar nichts anderem ergeben). Diese Tradition aber soll und muss auf dem gegenwärtigen Anspruchsniveau unserer Gesellschaft eine aktive und demokratische Mitgestaltung des gemeinsamen Lebens ermöglichen. Dafür ist zunächst zweierlei erforderlich: Einmal eine (natürlich perspektivische) Kenntnis der Tradition in ihrem geschichtlichen Bestand; sodann eine Anerkenntnis des normativen Gehalts dieser Tradition. Beides aber geht – drittens – nur zusammen, wenn sich Geschichte und Normen so miteinander verbinden, dass deren Geltungsanspruch auch für das eigene, individuelle Leben sich erschließt. Genau dieser Ort der individuellen Evidenz und Verbindlichkeit der haltungsprägenden Tradition aber ist der Ort von "Religion". Wie immer und mit welchem Begriff wir diese Funktionsstelle bezeichnen wollen, für die Aufgabe eines allgemeinen Schulsystems in einer demokratischen Gesellschaft ist die Wahrnehmung und Ausfüllung derselben unverzichtbar.

Nun verhält es sich natürlich so, dass dieser Ort, den ich mit dem Begriff "Religion" bezeichnet habe, immer schon besetzt ist, und zwar von unterschiedlichen Traditionslinien in unterschiedlichen Überzeugungsgemeinschaften. So sehr die öffentliche Schule diese Funktion wahrzunehmen hat, so wenig bringt sie diese hervor. Statt dessen hat sie ihre Aufmerksamkeit gerade auf die verschiedenen bereits vorliegenden Gestaltungen von "Religion" zu richten, die in unserer Gesellschaft und ihrem Umkreis vorkommen. Darum gilt es, einen solchen Begriff von Religion – ansetzend bei der Deskription des in der Schule Erforderlichen – zu entwickeln, der mindestens zwei Bedingungen erfüllt: Er muss die verbindlichkeitserzeugende Kraft von "Religion" anschaulich und erlebbar machen – und er muss die Vielfalt unterschiedlicher Überzeugungsformationen verstehbar machen. Das ist nach meiner Auffassung die Aufgabe eines Religionsbegriffes, der sich aus der gesellschaftlich akzeptierten und erforderlichen Gestalt der öffentlichen Schule ergibt. Von dieser Nötigung können auch die Reserven der Theologie und der Religionswissenschaft nicht befreien.

Lassen Sie mich im folgenden den Versuch machen, wenigstens einige Linien eines solchen Religionsbegriffs im Zusammenhang des gesellschaftlichen Bildungsauftrags zu umreißen.

 

 

Religion – von der Bildung her verstanden.
Drei Argumentationsschritte

Die Religionstheorie versucht manchmal, den Begriff der Religion in die Alternative von "substantiellem" und "funktionalem" Religionsbegriff zu fassen. "Substantiell" heißt in diesem Zusammenhang: Religion liegt da und nur da vor, wo von Gott, Glaube, Gebet, Ritus und dergleichen die Rede ist. Das ist, ohne dagegen weiter zu argumentieren, erkennbar zu eng. Zu weit ist dagegen ein bloß "funktionaler" Religionsbegriff, nach dem Religion bereits in jeder Form eines Sich-Überlassens an eine überindividuelle Instanz vorliegt, sei es die Jugendgang oder der Fußballfanclub oder das Popidol. Gegenüber beiden Seiten dieser Alternative schlage ich einen bildungsbezogenen Religionsbegriff vor, der einerseits an Deutungsprozesse allgemeiner Art anknüpft, andererseits in die religiöse Bestimmtheit hineinführt.

 

1. Das Phänomen des Deutens

Meine Argumentation verläuft in drei Schritten. Ich beginne mit dem Phänomen von Deutung. Zu den elementaren Vollzügen bewussten Lebens gehört das Deuten. Was damit gemeint ist, lässt sich über die "als-Struktur" erläutern. Ich nehme auf dem Spaziergang durch den Loccumer Wald auf der Lichtung eine Gestalt wahr: Baum, Strauch, Mensch? Ich komme näher und sehe: Ein Mensch. Ich deute die Gestalt "als" Mensch. Damit ich das kann, muss ich natürlich das Wort gelernt haben – und das heißt zugleich, seine Verwendungsregel kennen. Aber indem ich in diesem Fall von dem Wort seine richtige Anwendung mache, stellt sich viel mehr ein als nur das. Ich mache von der Fähigkeit Gebrauch, die Gestalt als einen Zugehörigen zur Menschheit zu identifizieren, das heißt ihn ins – mindestens virtuelle – Verhältnis zu anderen Menschen zu setzen. "Als Mensch" deuten, heißt somit eo ipso einer Allgemeinheit zuordnen. Und noch mehr: "Als Mensch" deuten, heißt zugleich: Diese Gestalt zu mir in Beziehung zu setzen – woraus sich auch Verhaltensregeln, ja Verhaltenspflichten ergeben. Die noch ungedeutete Gestalt, der Schemen, sagt mir (noch) nichts und verpflichtet mich zu nichts. Erst die Deutung macht das "Etwas" – im theoretischen Sinne ("Das ist ein Mensch") und im praktischen Sinne ("Verhalte dich zu einem Menschen – und erwarte menschenartiges Verhalten").

Das Eigentümliche des Deutens besteht nun weiter darin, dass das von mir Gedeutete ja mir gegenüber bleibt – und doch als Gedeutetes (in der Form der Deutung, die ich vornehme) mir zu eigen ist. Wie ist das möglich? Wenn wir dieser Spur folgten, kämen wir – über eine Theorie der Kommunikation – auf eine Theorie des Geistes, welche uns erklären würde, inwiefern das Beim-anderen-Sein und das Bei-sich-Sein (stets) zusammen bestehen. Das könnte u.U. auf eine Theorie universalen Zuschnitts, von Hegelschem Gewicht gewissermaßen, hinauslaufen. Ich möchte gegenüber diesem interessanten Weg nur einen Einwand machen, nämlich dass er vorschnell verallgemeinert. Deuten, so müssen wir sagen, ist ja zunächst unser eigener Vollzug – als Menschen. Damit steht das Deuten unter ganz bestimmten Bedingungen, und diese ermöglichen und begrenzen das Deuten auch wiederum.

 

2. Das Deuten und die conditio humana

Das ist mein zweiter Schritt in der Argumentation: Unser Deuten geht auf unsere leibseelische Beschaffenheit zurück und ist von ihr grundsätzlich geprägt. Wie es zum Deuten kommt, ist und bleibt ja ein Geheimnis. Keine naturalistische Herleitung unseres Deutens als Erregungen des neuronalen Netzes hat bisher gegeben werden können – und wird es auch nicht geben. Und jede Bewusstseinstheorie, die das Eigensein des Leibes aufzulösen versucht, bringt sich um ihre lebensweltliche Plausibilität. Statt dessen gilt: Es ist eben so, dass wir deuten können – und wir müssen lediglich verstehen, was das bedeutet – unter Voraussetzung und Annahme dessen, dass es so ist.

Nun lässt sich relativ deutlich sagen, worin diese leibseelische conditio humana wurzelt. Sie geht auf drei Differenzen zurück, die untereinander zusammenhängen und sich auseinander ergeben. Wir leben als Kinder unserer Eltern. Wir leben als Männer und Frauen. Wir leben auf den Tod hin. Lassen Sie mich diese Differenzen ein wenig näher erörtern.

Die Tatsache, dass wir als Kinder von Eltern leben, ist mehr als ein schlichter empirischer Befund. Sie besitzt vielmehr die strukturelle Bedeutung, dass wir über die Herkunft unseres Lebens nicht verfügen. Woher wir kommen, ist unserem Zugriff und unserer Willensgestaltung entzogen. Wie sehr wir immer an der Gestalt und Gestaltung eigenen Lebens arbeiten: hinter diesen uns gegebenen Anfang kommen wir nicht zurück. Zugleich ist dieser Anfang nicht ein bloßes inhaltsleeres Faktum; es ist – so oder so bestimmt – das Eingestelltsein in eine Herkunftslinie, zu der – auch dies: so oder so ausgefüllt – Abhängigkeit und Freiheit gehören, Eingebundensein in Umstände und Erwartungen, Befähigtsein zum Abstand und zur Selbständigkeit. "Deuten lernen" ist mit dieser so natürlichen wie kulturell vermittelten Herkunft gegeben; Deutungen vollziehen, ist unvertretbar unser eigenes Tun; von Deutungen überzeugt sein, erst recht. Dazu gehört als erstes, wie immer noch un- oder vorbewusst: die Deutung des Verhältnisses zu den Eltern.

Dass wir als Männer und Frauen leben, nimmt diese Herkunft von den Eltern in die eigene Lebensführung und ihre Ansprüche hinein – wie immer wir damit umgehen. Auch in dieser Hinsicht finden wir eine Positionierung vor, die wir uns nicht aussuchen können, die wir aber gestalten müssen – und können. Dass der Begriff der (erotischen) Liebe zu einer so mächtigen Figur wurde in der nachromantischen Kultur, ist ja gerade ein Indiz für die in der gewachsenen und gestärkten Individualität nötige und mögliche Differenzbearbeitung durch gemeinsame Deutung dieses (nach wie vor bestehenden) Gegenübers.

Das Gefälle von Leben und Tod schließlich – es ist die Konsequenz des Geborenwerdens und des nicht-autarken Lebens. Und es stellt zugleich die schärfste Deutungsanforderung an uns selbst, nämlich an die Individualität des eigenen Lebens angesichts seines eigenen Endes. Wie Sie wissen, ist diese Figur bei Heidegger zum primären und privilegierten Deutungsort menschlichen Sichverstehens geworden. Dieser nur noch zu deutende Übergang freilich macht auf einen tieferen Zusammenhang aufmerksam, und damit komme ich zu meinem dritten Argumentationsschritt.

Eltern und Kinder, Männer und Frauen – dabei kann man immer noch die Vermutung hegen, dass es die jeweils vollzogenen Deutungen sind, die uns ermöglichen, in und mit diesen konstitutiven Unterschieden unseres Lebens zu leben, die gewissermaßen die Brücke bilden zwischen dem Unvereinbaren. Zwischen Leben und Tod gibt es diese Brücke nicht. Wenn es sie aber hier nicht gibt, dann hat es sie auch dort nicht gegeben – jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sie tragfähig gewesen wäre. Das heißt: Es liegt in dem Erfolg des Deutens noch ein weiteres Geheimnis verborgen.

 

3. Religiöse Lebensdeutung als Aufbau von Differenzkompetenz

Wir können die unüberwindlichen Differenzen des Lebens nur dann deuten, wenn wir uns auf eine Kraft des Zusammenhangs des Verschiedenen beziehen, über die wir nicht selbst verfügen. Wenn Sie so wollen, wendet sich an dieser Stelle die Beobachtung des gewissermaßen horizontalen Deutens in eine Frage nach vertikaler Deutung um. Genau – und nur – dann, wenn wir uns in unserem alltäglich geübten Deuten, das uns die Differenzen unseres Lebens zu bestehen hilft, auf einen Zusammenhang beziehen, der uns dieses Verbindung stiftende Deuten erlaubt, dann verstehen wir schon unser jetziges und andauerndes Tun richtig. Dann wissen wir uns als im Deuten selbst kompetentes und verantwortliches Individuum. Dann verstehen wir gerade diese Unabhängigkeit des Deutens als Reflex eines uns unverfügbaren Zusammenhangs. Dann stehen wir in den Differenzen des Lebens als Wesen, die im Prozess ihrer Selbst- und Weltdeutung diese Spannungen und Unterschiede ertragen, mit ihnen und ihnen leben und leben wollen, sie gestalten und verändern, aber auch zu akzeptieren in der Lage sind.

Das Verständnis dieser Dimension von Deutung ist Religion – wie immer diese Deutung dann aussieht. Religion ist, kurz gesagt, Differenzkompetenz des eigenen Lebens. Und das heißt umgekehrt: Nur der kann auf Religion verzichten, der in den Differenzen des Lebens auf ein eigenes Leben zu verzichten bereit ist. Wer aber kann auf ein eigenes Leben verzichten, ohne es durch diesen Verzicht nicht implizit schon behauptet zu haben? Die Aufklärung in Sachen Religion ist daher ein unverzichtbares Thema in einer Gesellschaft, deren demokratische Verfassung auf der Kompetenz der Entscheidung der Bürger aus ihrem eigenen Leben und für ihr eigenes Leben aufruht.

 

 

Religion – im Bildungsgang.
Drei Konkretionen

Lassen Sie mich das Ergebnis dieses Gedankengangs nun noch in dreifacher Hinsicht erläutern und konkretisieren. Erstens geht es um das spezifische religiöse Profil dieses Religionsbegriffs, also um seine geschichtliche, ja konfessionelle Herkunft und die Frage, ob er trotzdem tauglich ist. Zweitens geht es um die Identifikation der soeben entfalteten Strukturen in konkreten Bildungsgängen. Drittens geht es um die Frage, inwiefern ein solcher Religionsbegriff Unterschiede nicht nur begreiflich macht, sondern zu fördern bereit ist.

 

1. Das christliche Profil und die Allgemeinheit

Zum ersten. Ich hatte es ja eingangs schon einmal angedeutet: Ein nicht unerheblicher – doppelter – Einwand der Religionswissenschaft gegenüber einem Religionsbegriff besteht darin, nicht nur jedem möglichen Begriff von Religion seine engere Kontextualität vorzuwerfen (weil es so etwas wie eine "natürliche Religion" nicht gibt), sondern auch den Religionsbegriff überhaupt für ein spezifisch christlich-westliches Konzept zu erklären. Ich sage zu diesem doppelten Einwand: Er hat völlig Recht. Aber er besagt gar nichts gegen den Religionsbegriff.

Der Einwand hat Recht, ja, natürlich. Aber er ist auch in der ersten Hinsicht trivial. Denn jeder Begriff, in welcher Wissenschaft auch immer, besitzt seinen historischen Kontext, in dem er so geworden ist oder gefunden wurde. Die Forderung nach Kontextfreiheit, die er scheinbar impliziert, ist schlichte Illusion. Wichtiger ist die andere Seite, die Frage nach der Christlichkeit schon eines Begriffs von Religion. Auch diesem Vorwurf gebe ich, jedenfalls für meine Ausführungen, Recht. Wenn denn Kontextfreiheit nicht zu erzielen ist, dann gilt es, den jeweiligen Religionsbegriff so stark zu machen und so genau zu analysieren, dass möglicherweise aufgrund dieser Durchdringung sich Anschlussmöglichkeiten ergeben. Also: Der Begriff der Religion, den ich Ihnen eben vorgeführt habe, kann und will seine christliche Herkunft nicht verbergen. Denn bei nur etwas näherer Betrachtung zeigt sich sogleich, dass es einen und nur einen Fall gibt, durch den die Struktur des Deutens, das sich einem differenzübergreifenden Zusammenhang verdankt, völlig erfüllt wird. Dieser Fall liegt dann vor, wenn sich der von uns für unser Deuten in Anspruch genommene Zusammenhang als von der Art erwiesen hat, dass er uns selbst als Gegenstand unseres Deutens erschlossen ist. In religiöser Sprache gesprochen: Wenn sich Gott uns als Mensch offenbart. (Es ließe sich hier, wenn wir Zeit hätten, eine gesamte Skizze christlicher Glaubenslehre anfügen, in der von der Sündenlehre über die Christologie bis zur Eschatologie alle klassischen Lehrstücke ihren praktischen Ort zu erkennen gäben.)

Aber auch ohne die tatsächliche Erfüllung dieser Struktur in dem einen Fall des christlichen Glaubens besitzt der in diesem Religionsbegriff gemeinte Sachverhalt normatives Gewicht. Denn um eine Deutung eigener Selbständigkeit – unabhängig von Besitz und Einkommen, sozialem Rang und gesellschaftlicher Macht – muss es der Demokratie gehen. Insofern sind, unter unseren Lebensbedingungen, diese normativen Gesichtspunkte an jede Religion anzulegen, die in der multikulturellen Ausgangslage einer gemischt religiösen Gesellschaft anzutreffen ist. Es muss aber auch gar nicht erwartet oder befürchtet werden, dass sich andere Religionen diesem Impuls auf Selbstständigkeit eo ipso widersetzen; warum sollte man eine Entwicklungsfähigkeit von Religionen ausschließen? Dass Religionen in einem umfriedeten Raum eigenen Besitztums (und also: unbestrittenen Zugriffs auf die Religionsangehörigen) je gelebt hätten, ist ja reine historische Fiktion – oder Ausdruck eines weltfremden Fundamentalismus.

Das heißt also, um diese erste Erläuterung abzuschließen: Ein solcher auf das eigene Leben und die Unvertretbarkeit seines Deutehandelns abzielender Religionsbegriff ist ganz gewiss christlicher Herkunft, schließt aber in den Strukturen, die er in sich trägt, an andere religiöse Gestaltungen an und streitet mit ihnen um die jeweils implizierte Normativität.

 

2. Die Suche nach Identität

Meine zweite Erläuterung. Ich hatte ja gesagt: Religion in dem von mir beschriebenen Sinne gehört in den Zusammenhang eines Bildungshandelns insgesamt hinein. Das will ich kurz am Identitätsbegriff exemplifizieren. Die lange, nun schon gewiss dreißig Jahre andauernde Debatte über den Identitätsbegriff hat, trotz aller Windungen und Wendungen, jedenfalls dies gezeigt, dass mit so etwas wie substantieller Identität im Sinne eines festen, eventuell anzureichernden Bestandes, nicht gerechnet werden kann. In dem Maße, wie umgekehrt mit dem Bild einer Prozesshaftigkeit der Identität gearbeitet wird, verschärft sich aber die Frage nach der diesem Prozess zugrunde liegenden Instanz. Nun ist es meine These, dass Religion als Differenzkompetenz eigenen Lebens in der Lage ist, Bildungsprozesse von Identität zu strukturieren.

Bildungsgänge vollziehen sich, empirisch angesehen, als mehrdimensional geschichtete Vorgänge. In einer ersten Dimension geht es darum, Welt-Zusammenhänge in Beziehung zueinander zu setzen, also Regelmäßigkeit zu erfassen und Erwartbarkeiten zu formulieren – Sprach-Bildung ist (hier) in instrumentellem Sinne vonnöten. Allerdings sind diese Welt-Zusammenhänge in keinem Moment aufzubauen und zu erschließen ohne innere Rückkopplungen auf das Selbstverstehen. In jedem Unterricht läuft diese zweite Dimension unvermeidlich mit – und oft sind ja gerade Störungen des Bildungsverlaufs auf die mangelnde Synchronie beider Dimensionen zurückzuführen, fahrlässigerweise oder unumgehbar. Natürlich ist die Selbstdeutungsaffinität von Rechenaufgaben anders als die einer geschichtlichen Begebenheit oder einer Gedichtinterpretation. Und es gehört zum unterrichtlichen Geschick, die reflexiven und emotiven Resonanzen nicht nur wahrzunehmen, sondern auch sachgerecht zur Geltung kommen zu lassen. Mindestens im Literatur- und Kunstunterricht, gewiss aber im Religionsunterricht wird schließlich die dritte Dimension des Bildungsverlaufes, diese Selbstdeutungsebene, absichtlich zum Gegenstand.

Im Religionsunterricht zudem auf besondere Weise. Denn einmal geht es um eine erprobende Wahrnehmung und Kenntnis der Materialien, an denen sich das religiöse Empfinden artikuliert und die religiöse Praxis orientiert. Das alles bewegt sich

 

3. Die Freude am Verschiedenen

Meine dritte Erläuterung schließlich bezieht sich auf den Begriff der Differenz. Es könnte ja nun jemand einwenden, dass dieser Beitrag der Religion und des Religionsunterrichts doch ein Unternehmen ist, das gerade die Pluralität und Toleranz untergräbt, wie sie für ein demokratisches Gemeinwesen nicht weniger erheblich ist als die Eigenständigkeit. Warum ist das nicht der Fall?

Religion als Differenzkompetenz eigenen Lebens, lautete meine Formel. Wir haben sie eben auf äußere Bildungsgänge angewandt. Differenzkompetenz wurzelt aber zutiefst in einer Selbstdifferenzierung. Inwiefern? Ich erinnere Sie an den früheren Gedanken, der die eigentümliche Wendung der Blickrichtung von der, wie ich sagte, "horizontalen" zur "vertikalen" Deutung sprach. Es ist nun leicht zu sehen, dass und inwiefern ich mich selbst als Subjekt meiner alltäglichen Lebensdeutungen verstehen kann und muss. Die Pointe der anderen, religiösen Blickrichtung besteht nun darin, dass ich zwar immer noch meine Deutung selbst vollziehe, mich aber hinsichtlich des Zutreffens der Deutung oder ihrer Wahrheit nicht als dafür selbst verantwortlich betrachten kann. Damit zieht aber in das mir vertraute Deuten eine Differenz ein, die ich auch gar nicht aus eigener Kraft überwinden wollen kann. Vielmehr muss ich voraussetzen, dass die Deutung gerade darum zutrifft, weil ihre Wahrheit mir entzogen ist. In theologischer Terminologie würde man hier von Gnade sprechen und das Einleuchten der Wahrheit dem Heiligen Geist zuschreiben.

Wenn aber nun inmitten des religiösen Selbstdeutens eine solche Selbst-Differenz zu beobachten ist (die gerade die letzte Bedingung personaler Identität darstellt), dann erwächst daraus ein verändertes Verhältnis zur Differenz überhaupt. Nämlich: die Freude am Verschiedenen. Es wird mir bewusst, wie wenig Identität aus Uniformität erwächst. Es überrascht und erfreut, wie sehr und wie vielfältig Verschiedenes zu dieser Art von religiös verwurzelter Identität imstande ist. Ich beobachte gern, wie andere ihren Weg zur Religion und in der Religion gehen; anders als der eigene in vielen Erscheinungsformen, aber nicht weniger authentisch, nicht weniger wahr. So dass es interessant wird, sich über die Unterschiede der Wege auszutauschen. So dass es spannend ist, auch die Verschiedenheit religiöser Herkünfte (aus anderen Religionen) wahrzunehmen und zu ermessen. Dies durchaus im Bewusstsein und in der Erwartung, in der Kommunikation über die Unterschiede in der religiösen Grundstruktur Bekanntem zu begegnen. Daraus erwächst, wir werden davon in diesen Tagen noch hören, auch ein Motiv für einen freundschaftlichen und selbstbewussten interkonfessionellen Religionsunterricht. Und wohl auch nicht minder für eine ebenso verfasste interreligiöse Begegnung in der Schule, vom je eigenen Religionsunterricht vorbereitet.

Ich fasse zusammen. Religion, meine Damen und Herren, ist ein ungeliebter und schwieriger Begriff. Er ist aber unverzichtbar, wenn wir die Bildungsaufgabe der Schule in der demokratischen Gesellschaft angemessen wahrnehmen wollen. Darum stellt er sich unangesehen aller begrifflichen Schwierigkeiten als praktische Notwendigkeit. Es empfiehlt sich, ihn in Parallelität zum Bildungsprozess selbst aufzubauen – als Beschreibung einer für alles Deuten im Bildungsgang unerlässlichen Differenzkompetenz eigenen Lebens, das in der Lage ist, den Differenzen, in denen es ungesucht lebt, fröhlich standzuhalten und sie mutig zu gestalten.

Sensible Differenzkompetenz, lieber Herr Kampermann, fröhliches Standhalten und mutiges Gestalten in Kirche und Schule, das habe ich über nun 24 Jahre hin, manchmal nahe, manchmal aus größerem Abstand, an Ihnen erlebt und von Ihnen gelernt. Dafür danke ich Ihnen von Herzen.

 

 


Vizepräsident Ernst Kampermann verabschiedet

Im September 2002 ist der Geistliche Vizepräsident des Landeskirchenamts der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Ernst Kampermann, in den Ruhestand eingetreten. Ernst Kampermann war zuvor als Schul- und Bildungsreferent im Landeskirchenamt 10 Jahre der für das RPI Loccum zuständige Dezernent. Er hat sich mit besonders großem Engagement in den Jahren seines schulpolitischen Wirkens für die "ökumenische Kooperation im konfessionellen Religionsunterricht" eingesetzt. Über viele Jahre haben die von ihm zusammen mit Dr. Walter Klöppel verantworteten "Berichte kirchlicher Schulreferenten in Niedersachsen" den Entwicklungsprozess der ökumenischen Kooperation im Religionsunterricht initiiert, gefördert und begleitet. Das RPI hat zur Verabschiedung von Ernst Kampermann am 30./31. Oktober 2002 die Tagung "Vielfalt und Gemeinsamkeit. Ökumenische Perspektiven und konfessionelle Profile im Religionsunterricht" ausgerichtet, an der ca. 100 Personen aus Schule und Kirche teilnahmen. Drei Vorträge regten die Diskussionen dieser Tagung an: Prof. Dr. Dietrich Korsch (Marburg) referierte zum Thema "Religion. Identität. Differenz", anschließend Prof. Dr. Michael Meyer-Blanck (Bonn) über "Konfession. Kompetenz. Kultur. Wofür qualifiziert der Religionsunterricht?". Der katholische Religionspädagoge Prof. Dr. Albert Biesinger (Tübingen) berichtete unter dem Titel "Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Qualitätsmaßstäbe eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts" über die Erfahrungen mit einem Schulversuch zur konfessionellen Kooperation in Württemberg. Herzliche Worte der Würdigung und des Dankes an Ernst Kampermann schlossen die Tagung ab.

mehr oder minder auf der Ebene der gegenständlichen Vermittlung. Viel schwieriger, sachlich aber entscheidend, ist das Verstehen des Sachverhalts, dass sich anhand und im Gebrauch solcher Materialien, Überlieferungen, Vorstellungen, Bilder und Riten tatsächlich religiöses Leben entzündet. Das ist der unverzichtbare Ort für den exemplarischen Einsatz der unterrichtenden Person. Solche Aneignungsvorgänge lassen sich nur über das Medium der Person veranschaulichen – gerade dann, wenn damit nicht die Haltung eines – am Ende bestenfalls persönlich beeindruckenden, nicht aber bildenden – Bekenntnisses der Lehrperson eingenommen werden soll. Die eigentümliche Verknüpfung von persönlicher Authentizität und sachlicher Distanz ist aber nichts anderes als der Reflex der religiösen Struktur selbst, nach der das unvertretbar eigene Deuten stets von dem Hintergrund der Deutung, dem unergründlichen Zusammenhang alles Deutens, unterschieden bleibt. Differenzkompetenz verlangt nach ihrer Darstellung im Unterricht – nicht nur als Gegenstand, sondern auch im Vollzug.

Nun ist es diese im eigenen Selbstumgang zu erreichende Differenzkompetenz, die auch das Aneignen von Sachverhalten von anderer Struktur und aus anderen Wissensbeständen erleichtert; teils, indem Erwartungen an "Subjektrelevanz" gemildert werden, teils, indem die überall mitlaufende Ebene des Selbstbezuges wahrgenommen wird. Kurzum: Der Religionsunterricht im beschriebenen Sinne dient einem umfassenden und präzisen Bildungskonzept. Er trägt zur Findung einer prozesshaft sich vollziehenden Identität bei.

 

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2003

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