Brauchen Kinder Religion? – oder: von Arpinum bis Flossenbürg

von Rainer Winkel

 

"Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt:
‚zweie die mich decken,zweie, die mich wecken‘,
so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas,
was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder."

Dietrich Bonhoeffer, am 19.12.1944



I  Ein turbulentes Leben

Sein Leben, ich gesteh’s, hätte ich ganz gern gelebt. Aufregend wr es genug, aber auch beschaulich; hinterlassen hat es viel, und bewirkt hat es nicht wenig; nur den Tod hätte ich mir anders gewünscht. Immerhin: Mein Vater wäre nicht Zeitungsverleger gewesen, sondern ein Gutsbesitzer, ich wäre nicht in Dresden geboren worden, sondern bei Arpinum; und ich hätte meine Geburtsstadt nicht als "Ausgebomter" und "Familienzerissener" verlassen müssen, sondern wäre mit meinen Eltern und einem jüngeren Bruder friedlich nach Rom gezogen, weil unsere Bildung dort bewerkstelligt werden sollte. Ich hätte Jura studiert und Philosophie, Literatur und Rhetorik, nicht aber die drei, also Pädagogik, Psychologie und Psychiatrie. Ich wäre kein schlechter Anwalt geworden, sogar Quästor, Prätor und auch Konsul. Dann aber hätten mich die Machenschaften gepackt, die Intrigen: Catilina und Cäsar, Pompejus und Clodius, Antonius und Octavius wären mir auf den Fersen gewesen. Enttäuscht von den grausamen Machtspielen und meines Lebens nicht ganz sicher hätte ich mich in die Wissenschaft zurückgezogen, hätte vor allem philosophische, rhetorische und politische Schriften verfasst, die Weltruhm erlangten – und an die tausend Briefe hätte ich geschrieben, Briefe, deren Sprache zu der schönsten Prosa zählt, die je ein Mensch zu schreiben vermochte. Wie gesagt: Ich wäre gern am 3. Januar des Jahres 106 v. Chr. in Latium zur Welt gekommen und hätte gern Freiheit und Recht gegen die Diktatoren verteidigt – nur von Mörderhand wäre ich nicht gern gestorben, an jenem 7. Dezember des Jahres 43, im Alter von beinahe 64 Jahren. Aber ich hätte ein Werk hinterlassen, das uns einleitend beschäftigen soll. Es trägt den Titel: De natura deorum" ("Über das Wesen der Götter"), ist etwa im Jahre 45 v. Chr. geschrieben worden; sein Autor hieß Marcus Tullius Cicero. In dieser Schrift, die aus drei Büchern besteht und in Form von Streitgesprächen abgefasst ist, finden sich gleich zu Beginn die beiden wichtigsten Sätze, die im Zusammenhang mit der hier zu untersuchenden Frage geschrieben wurden:

"Cum multare res in philosophia nequaquam satis adhuc explicatae sint, turn perdifficilis, Brute, quod tu minime ignoras, et perobscura quaestio est de natura deorum, quae et ad cognitionem animi pulcherrima est et ad moderandam religionem necessaria."

In der Übersetzung: "In der Philosophie gibt es zwar, mein Brutus, noch Vieles, was der Aufklärung bedarf, aber zu den schwierigsten und dunkelsten Fragen in ihr gehört, wie dir bekannt ist, die nach der Natur der Götter. Sie dient vortrefflich zur Erkenntnis unseres eigenen Geistes und ist unentbehrlich für die Einhaltung des rechten Maßes bei der Religion."

Wer die folgenden Gespräche liest, ist von ihrer Offenheit ebenso beeindruckt wie von ihrer Leidenschaft. Cicero hinterließ, lange vor Lessings "Nathan, der Weise", ein hinreißendes Plädoyer für das Recht auf religiöse Überzeugungen und für das Recht auf den Zweifel daran. Zwei Einsichten bleiben bestehen: die Frage nach dem "Wesen der Götter", also die Frage nach dem Projekt der Religion, ist und bleibt die dunkelste, die rätselhafteste aller Erkenntnisbemühung. Aber sie dient zweitens "unserem eigenen Geist", wir würden heute sagen: Sie dient der Bildung des Menschen, auf dass er – wie überall – auch in der Region das rechte Maß finde.

Mit Cicero im Rücken ergeben sich für die folgenden Ausführungen drei Abschnitte: Zunächst fragen wir nach den anthropologischen Grundlagen des Menschseins. Sodann werde ich aus erziehungswissenschaftlicher Sicht eine dreifache Antwort auf die Ausgangsfrage geben. Und schließlich soll uns noch einmal ein Leben beschäftigen, das sich gleichfalls mutig bekannte, für bestimmte Überzeugungen entschieden eintrat und von Mörderhand ausgelöscht wurde – fast 2000 Jahre nach dem Tode Ciceros.

 

II  Die sieben Anthropina des Menschen

Anthropos bedeutet im Griechischen: der Mensch. Wer oder was aber ist der Mensch? Was "macht" ihn zum Menschen? Welche Merkmale kennzeichnen ihn als Menschen – bei aller Gemeinsamkeit mit anderen Lebewesen? gibt es Anthropina des Menschen? Also Merkmale, die ihn unverwechselbar als homo humanus charakterisieren.

Es gibt eine Wissenschaft, die sich mit diesen Fragen intensiv beschäftigt – sie ist wohl die älteste Erkenntnissuche, nennt sich Anthropologie und soll uns helfen, eine Antwort auf die Frage zu finden: Brauchen Kinder Religion?

Spätestens seit Herder wissen wir, dass sich jeder Mensch auf dreifache Weise erfährt und entfaltet: in seiner Wirklichkeit bzw. Realität, in seinem esse (seinem konkreten Da-Sein also); zweitens in seiner Möglichkeit bzw. Potentialität, in seinem posse (seinem eventuellen So-kannst-du –Sein); und drittens in seiner Notwendigkeit bzw. Nezessität, in seinem necesse (seinem So-sollst-du sein). Wir sind einerseits das, was wir sind; wir sind aber auch das, was wir werden können und werden sollen. Der Mensch ist ein dynamisches, ein sich entwerfendes, ein sich entwickelndes Wesen. Zu Recht hat deshalb der große göttinger Pädagoge Heinrich Roth die beiden Bände seines monumentalen Werkes über "Pädagogische Anthropologie" mit den Begriffen versehen: "Bildsamkeit und Bestimmung" sowie "Entwicklung und Erziehung". Wir sind nicht nur das. was wir sind, sondern wir sind immer auch das, was wir über uns denken, was wir füreinander empfingen, was wir miteinander oder gegeneinander tun. In der etwa 100.000 Jahr nachweisbaren Geschichte der Menschheit zeigt sich die condition humaine als eine in jede Richtung offene. Sie kann in Auschwitz enden oder auf Golgatha, in einer Strafanstalt oder in einem Konzertsaal.

Die Sprache des Menschen kann aufklären und trösten, sie kann aber auch lügen und verletzen. Meine Hand kann sich öffnen, um zu schenken oder zu streicheln; ich kann sie aber auch zu einer Faust ballen und meinen Mitmenschen damit erschlagen. Wir sind antinomische Wesen, widersprüchliche, auf Gegensätze hin offene Wesen; in uns ist immer beides: die Stimme des Guten (die vox angelica) und die Stimme des Bösen (die vox diabolica). auf welche Weise wir hören, entscheidet die Menschenstimme in uns (die vox humana), die wir mühsam lernen müssen, und zwar in jedem einzelnen Leben (also ontogenetisch) und in der Menschheitsgeschichte (also phylogenetisch). Von Tag zu Tag aber auch von Generation zu Generation, gibt der Mensch zu Protokoll, was er von sich erwartet, wer er sein und werden möchte. 30.000 Generationen mögen bisher gelebt und ihren Anspruch an Humanität formuliert haben: ob im "Gilgamesch-Epos" aus dem 12. vorchristlichen Jahrhundert oder im "Neuen Testament", das ab dem Jahre 40 verfasst worden sein dürfte; ob in der "Magna Charta Libertatum" von 1215 oder in der "Bill of Rights" aus dem Jahre 1689; ob in der "Internationalen Charta der Menschenrechte", die 1948 die UN-Vollversammlung beschloss, oder im "Bonner Grundgesetz" vom 23. Mai 1949. In ihren Kommuniqués dokumentieren die Menschen den Anspruch an sich selbst. Aber auch jeder einzelne Mensch kann den Satz in sein persönliches Tage-Buch schreiben: So blick‘ ich traurig auf den, der ich sein könnte ...

Die Bestimmung des Menschen ist also keine beliebige, sondern an seine Geschichte gebunden, aus der niemand herausspringen kann. Um das in einer Dynamik fortwirkende Menschsein zu ermitteln, müssen wir nicht auf das Geraune von Göttern lauschen, wohl aber in das Wissen der Menschheit, das immer schon ein anspruchsvolles ist, und in das persönliche Gewissen, das – wenn es ein gebildetes Gewissen ist – den einzelnen mit seiner Notwendigkeit konfrontiert. ... denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern. So endet Rilkes Gedicht "Archaischer Torso Apollos".

Welche Menschenmerkmale sind es nun, die dem Menschen aufgrund seiner Geschichte anheimgegeben sind? Wir unterscheiden sieben Anthropina, auch wenn die Grenzen fließend sind.

  • Die Erziehung (die Pädagogik): "Am Anfang war Erziehung"! Diese Aussage stimmt, wenn sie nicht zeitlich, sondern prinzipiell gemeint ist – etwa im Sinne Kants, der in seiner ab 1776 regelmäßig gehaltenen Vorlesung "Über Pädagogik" jene berühmten drei Sätze sprach. "Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss ... Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht."

    Wieder erkennen wir den Notwendigkeits-, den Möglichkeits- und den Wirklichkeitsgrund des Menschen, der ein homo educandus, ein homo educabilis und ein homo educatus ist: ein Mensch, der erzogen werden muss, erzogen werden kann und immer schon erzogen wird. Und zweitens ist zu beachten, dass der Aufklärer Kant den Menschen als ein Geschöpf anspricht, nicht als Schöpfer. Halten wir einstweilen fest: wer dem Menschen sein Recht auf Erziehung und Bildung nimmt, wozu lebenslanges Lernen gehört, der beraubt ihn seiner Menschlichkeit, mehr noch: er zerstört ihn als Menschen.

  • Der Glaube (die Religion): Wer keine Gelegenheit hat, von klein auf über den Sinn seines und des Lebens überhaupt, über den Sinn seines Sterbens, seiner Schul und seiner Hoffnung nachzusinnen, sich mit den Antworten der Religionen auseinander zusetzen und das heißt, in ihnen nicht wie in verschiedenen Kochbüchern unverbindlich blättern zu dürfen, sondern aus geglaubtem Wissen heraus Fragen und Antworten zu erfahren, wer drittens keine Möglichkeit hat, in einer Gemeinschaft mit Gläubigen aufzuwachsen und in Feier und Gebet seinen sich entwickelnden Antworten und Zweifeln Ausdruck zu verleihen, wird um eine zweite Dimension seiner Menschenart gebracht. Diese ist etwas anderes als Gesetzestreue oder Moralerziehung. Im Wort Religion steckt das lateinische Verb religere, was wörtlich heißt: zurückbinden, festbinden, aber auch losmachen. In der Religion binden wir uns an Gott, akzeptieren wir, nicht Schöpfer, sondern Geschöpfe zu sein, defizitäre Wesen also, imperfekte Menschen, die aber – wenn sie in dieser Bescheidenheit und Demut leben – sich losmachen von jenem Allmachtswahn, den der Psychoanalytiker Horst E. Richter den "Gotteskomplex" genannt hat und der als kognitiver und politischer Imperialismus uns an den Rand der Selbstzerstörung gebracht hat. Wer den Menschen das Recht auf religiöse Bildung nimmt oder verweigert, verkrüppelt ihn nicht weniger als der Antipädagoge, dem die Erziehung ein unerträgliches Ärgernis ist.

  • Die Sittlichkeit (die Ethik): sie ist nicht dasselbe wie die Religion, sondern läuft letztlich auf den Kategorischen Imperativ hinaus, den Kant in der "Kritik der Praktischen Vernunft" 1788 wie folgt definiert hatte: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Dieses Gesetz ist etwas anderes als das Motiv des "Barmherzigen Samariters", der aus Liebe hilft. Das Sittengesetz beansprucht Universalität, weil dies nützlich und vernünftig ist; der Glaube an das Gute kulminiert in der Liebe zu Gott. Zwei sich ergänzende Anthropina, aber nicht wechselseitig ersetzbare Menschenmerkmale. Wer den Menschen daran hindert, das Gute aus dem Gesetz der Ethik heraus zu erkennen und zu tun, amputiert seine Humanität und stößt ihn in jene Partikularität zurück, die z. D. das Dschungel-Gesetz inmitten von Großstädten immer wieder legitimiert: catch as catch can.

  • Die Arbeit (die Ökonomie): Gerade in diesem vierten Anthropinum, das nicht zufällig im Zentrum unserer siebenfachen Ausdimensionierung steht, lässt sich das Zusammenwirken aller einzelnen Anthropina illustrieren. Der Mensch als homo laborans begründet sich anders, wenn ihn das zweite Anthropinum als potentielle Lebenserfahrung zugänglich war oder verweigert wurde. "Das Recht auf Arbeit" fordert jeder Gewerkschaftler – und zu Recht. Aber er tut dies, weil er die Wahrung bzw. Verbesserung der ökonomischen Interessen seiner Mitglieder durchsetzen will – noch einmal: Zu Recht! Wer aber in seiner religiösen Bildung auch die Genesis studieren und den Zornesruf Jabwes vernehmen durfte, der da lautet "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen", dem wird jenes "ora et labora", jenes "Bete und arbeite!" eine unverzichtbare Sinnperspektive eröffnen. Er wird sein Tage-Werk anders und mit anderen Mitteln vollbringen als jener Zeitgenosse, dem die Arbeit allenfalls die Möglichkeiten für eine genussvolle Freizeit verschaffen soll. Damit soll nicht gegen ein möglichst erträgliches Arbeiten und gegen den Profit der Arbeit argumentiert werden, wohl aber für das Recht des Menschen, dieser seiner Arbeit einen anderen Sinn geben zu dürfen als den der Tarifverträge. Der in diesem Sinne arbeitslose Mensch ist ein beraubter Mensch.

  • Die Erkenntnissuche (die Wissenschaft): Mit der Dummheit im Bunde kämpften bekanntlich schon die Götter vergebens. Ignoranz und Ideologie, so schwörten die Menschen auf den Trümmern von viel Barbarei, sollen und dürfen uns nicht leiten. Deshalb kann der Mensch nur dann ein homo sapiens werden, wenn er Wissen schafft und dieses Wissen immer wieder vor dem Tribunal der Vernunft einer Prüfung unterzieht. Dort, und nur dort können um Beweis bemühte Aussagen, also wissenschaftliche Sätze, verifiziert oder falsifiziert werden. Wer den Menschen also fünftens die Wissenschaft nimmt, stößt sie zurück in den Dunst jener Höhle, die Platon als einen Ort von Gaukelbildern bezeichnet hatte.

  • Die Konfliktregelung (die Politik): Wenn Politik die gemeinsame Regelung verschiedener Interessen und Konflikte ist, dann kann eine Gesellschaft nicht human leben, wenn ihre Mitglieder politikunfähig sind. Das Gute und Wahre aller im Auge zu haben (das bonum et verum omni um), ist genauso fundamental wie mein Selbstverwirklichungsrecht. Die Amerikaner sprechen von communitarism bzw. von communitarity und vom common sense, wenn sie die Individualrechte mit Hilfe der Gemeinschaftsrechte auszubalancieren bemüht sind. Die res humana des Einzelnen kann nur gedeihen, wenn dieser Einzelne in der res publica als politisch gebildeter Mensch auftritt. Wer ihm die Möglichkeit dazu nimmt, züchtet Krieger heran, aber keine Bürger.

  • Die Kunst (die Ästhetik): Über dem Eingangsportal meiner Hochschule steht in Stein gemeißelt: ERUDIENDAE ARTIBUS JUVENTUTI. Der durch die Künste zu bildenden Jugend will sie dienen. Denn zur Fülle des Menschseins gehört auch das Erleben von Literatur, Dichtung, Musik, Malerei, Theater usw. Ästhetik fungiert nicht als schmückendes Beiwerk, auf das man auch verzichten könnte, sondern als eines von sieben Anthropina. In der Kunst bilden wir jenes Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen aus, das die Griechen aisthesis nannten. Ohne Ästhetik würden wir verkommen und lassen wir andere(s) verkommen: unsere Umwelt und unsere Schulen, unsere Beziehungen und unseren Geschmack. Wer also meint, auf künstlerische Fächer – und sei es vorübergehend – verzichten zu können, muss sich nicht wundern, wenn eines Tages Banausen just diesen Verzicht von ihm verlangen.

    So bedeutsam jedes einzelne Anthropinum ist, erst zusammengenommen bilden sie ein Ganzes, ein Ensemble, das den Menschen zum Menschen macht. Wie die Finger an meiner Hand jeder für sich eine besondere Aufgabe besitzt, so sind sie zusammen die Finger meiner Hand bzw. die Ermöglichung einer optimalen Handhabung. Wenn ihr einer fehlt, wenn einer verletzt ist oder blutet, dann ist meine ganze hand davon betroffen: Sie ist verkrüppelt, krank oder leidend. Ähnlich verhält es sich mit den sieben Anthropina: Wer dem Menschen auch nur eines vorenthält, wegnimmt oder nur teilweise zugesteht, vergreift sich an der Menschwerdung des Menschen. 1988 legte der Schweizer Erziehungswissenschaftler Fritz Oser die wohl einzige empirische Untersuchung zu der Frage vor: "Wie viel Religion braucht der Mensch?" Und er kommt zu dem Ergebnis, dass ohne eine personal orientierte Auseinandersetzung mit gelebtem Glauben (der nicht dasselbe ist wie die Konsumierung religiöser Curricula), dass ohne gelebte Didaktik das nicht möglich wird, was wir aus anthropologischen Gründen wollen: personale Identität inmitten eines überzeugenden Lebenssinns. Damit können wir zum erziehungswissenschaftlichen Teil unserer Antwortsuche übergehen.

     

III  Drei erziehungswissenschaftliche Thesen

Den Kirchen, allen Kirchen, weht zurzeit ein scharfer Wind ins Gesicht – mancher zieht sich deshalb ins stille Kämmerlein zurück.. Ein paar Belege: Im Rahmen eines Forschungsprojektes der Bund-Länder-Kommission habe ich kürzlich u. a. folgende Vergleichszahlen ermittelt: Eine typische Grundschule in Berlin-Lichtenberg mit 415 Schülern hat noch 22 Schüler, die einer christlichen Kirche angehören, also 5, 3 %. Immerhin erhalten auf freiwilliger Basis noch 122 Schüler (knapp 30 %) Evangelische Religionslehre, 15 Schüler (knapp 4 %) außerhalb der Schule Katholischen Religionsunterricht und 144 (knapp 35 %) nicht LER, also Lebensgestaltung/Ethik/Religionskunde, sondern bloßen Ethikunterricht; 31 % jedoch erhalten weder das eine noch das andere. Demgegenüber besuchen eine vergleichbare Grundschule in Dortmund-Oespel 326 Schüler, von den zum Zeitpunkt der Erhebung 274 Schüler einer christlichen Konfession angehörten, also 83, 5 %. Evangelischen Religionsunterricht erhielten 194 Schüler (= 59 %), katholischen Religionsunterricht 124 Schüler (= fast 38 %) und keinerlei religiöse Unterweisung erhielten 3 % der Schüler. Es ist also keine böswillige Unterstellung, wenn wir, hoffentlich ohne falschen Zungenschlag, feststellen: Es gibt zwischen den neuen und alten Bundesländern auch eine enorme religionspädagogische Differenz.

Ein zweites Zahlenkonvolut . Zurzeit verzeichnet die evangelische Kirche eine Austrittsquote von 0,7 % und ihre finanzielle Leistungsfähigkeit wird, diesen Trend vorausgesetzt, bis zum Jahre 2030 um die Hälfte etwa abnehmen. Viele Kirchengemeinden und Landeskirchen, vor allem im Osten, stehen mittlerweile vor der Zahlungsunfähigkeit und werden eine Großteil ihrer karitativen Dienste nicht mehr leisten können.

Und drittens schließlich ist ein Kompensationstrend bemerkenswert, der sich eher sozialpsychologisch abspielt und von der Renaissance des Sektenkults bis hin zur Deifizierung materieller Dinge reicht. Am Beispiel der "Scientology-Sekte" lässt sich die Renaissance, am Beispiel der Kosmetika der Kult illustrieren. Das Kernverfahren der Scientologen besteht im sogenannten Auditing. Im Lateinischen heißt audire zuhören. Die in der Scientology-Church Eintretenden werden einem unbarmherzigen Einzelgespräch unterzogen und müssen unter ständiger Wiederholung dem Auditor schmerzhafte Erlebnisse erzählen – so lange, bis der Auditierte über sie lachen kann. Damit gilt das Erlebte als gelöscht. Dieser "Erfolg" wird mit dem sog. "E-Meter" gemessen, eine Art Lügendetektor, der nach einer Scientology-Preisliste z. Z. DM 11.860 kostet. Auf diese Weise wird jeder Scientologe zum gläsernen Menschen für diese Sekte, der allein in Deutschland schon mehr als 30.000 Menschen angehören und die weltweit schon rund 19.000 Firmen kontrolliert.

"Was die Sekte für Jugendliche so attraktiv macht", schreibt Günther Klosinski, Kinder- und Jugendpsychiater in Tübingen, ist dies: Sie "gibt Halt, stellt einen sozialen Uterus, einen bergenden Mutterschoß dar für alle jene, die einen Verlust an Geborgenheit in Familie, Kirche und Gesellschaft erleben mussten."

als Pendant dazu muss man die Sakralisierung bestimmter Produkte ansehen – z. B. die der Kosmetikindustrie. Parfums tragen heute Namen wie Heaven, Paradise, Opium, Extasy, Eternity, Glory, Escape etc. und suggerieren damit jedem Käufer, dass man all diese schönen Dinge nicht ersehen, erflehen, vielleicht auch über gute Werke schon hier und jetzt erahnbar machen, sondern in jeder Douglas-Filiale kaufen kann. Dem Sektenkult korrespondiert also ein Trivialisierung des Heiligen bzw. eine Deifizierung des Trivialen.

Warum nun dies alles? Ich denke, der Grund ist einfach und kompliziert zugleich: Zu allen Zeiten haben Verführer und Diktatoren gewusst, dass nur der amputierte, der verkrüppelte, der um seine Ganzheit gebrachte Mensch ein manipulierbarer wird. – sei es zum Konsum oder zum Kampf, zur Verblödung oder zur Verblendung. Und nachdem in der jüngeren Geschichte die Peitsche weniger erfolgreich war, setzt man heute auf das Zuckerbrot, auf die Lust anstelle der Last. Drogen aller Art sind gefragt, vom Alkohol über die Neuen Medien bis hin zur Zauberwelt der Vergnügungsparks. Und im Hintergrund besänftigt uns der stereotype Singsang: Don’t worry, be happy! – Don’t worry, be happy!

Wir leben in einer Zeit, in der es um mehr und Schlimmeres geht als die Abschaffung des Religionsunterrichts, das Beseitigen von Kruzifixen oder die scheinheilige Diskussion über ein Trennung von Staat und Kirche. Es geht um eine Zukunft mit oder ohne Gott, mit oder ohne das wohl schwerste Skandalon der Menschheit: dass sie nämlich die Frage nach Schuld und sühne, nach Sünde und Erlösung in der Tat von der Tagesordnung absetzen, ja sogar aus ihren Grund-Gesetzen wieder streichen oder aber sich ihr immer wieder stellen kann.

Lassen Sie mich auf der Basis der anthropologischen Überlegungen und inmitten der Skizzierung momentaner Bedrohung drei Thesen als Erziehungswissenschaftler formulieren:

These:
Die Notwendigkeit der religiösen Bildung kann in einer offenen, einer pluralistischen Gesellschaft nicht theologisch oder religionspädagogisch, sondern nur bildungstheoretisch, also allgemeinpädagogisch begründet werden. Wenn Erziehung und Schule, Bildung und Ausbildung auf die Dimension religiöser Bildung verzichten, verabschieden sie sich vom Konzept einer ganzheitlichen, einer humanen, einer anthropologisch fundierten Bildung.

These:
So wie es eine politische, eine ästhetische oder wissenschaftliche Bildung gibt, gibt es eine religiöse, die sich aber als Bildungsbemühung in öffentlichen Schulen zu bescheiden hat. Sie bildet, wie die anderen, aus etwas heraus, aber nicht für etwas aus. Der Deutschlehrer unterrichtet, erzieht und bildet aus der Germanistik, aber nicht für die Germanistik; der Sportlehrer aus dem Sport, aber nicht für den Sport; der Religionslehrer aus der Religion, aber nicht für die Religion, gar eine bestimmte Konfession (was Aufgabe und Recht der Familie und Gemeinde ist).

These:
Daraus aber die Schlussfolgerung abzuleiten, Religionsunterricht oder religiöse Bildung sollten von weltanschaulich neutralen bzw. religiös nicht unbedingt gebundenen Lehrern und Erziehern erteilt werden, fällt in ein Erziehungs- und Schulverhältnis zurück, das seit der Reformpädagogik als überwunden bezeichnet werden muss. Es reduziert nämlich den Lernenden auf die Reaktionsweise eines nur kognitiv Belehrten und den Lehrenden auf die Funktion des Informationsträgers. Demgegenüber steht die empirisch immer wieder bestätigte Einsicht, die Hartmut von Hentig auf die Formel gebracht hat: "Das wichtigste Curriculum des Lehrers ist seine Person." Das gilt für den Deutschlehrer in gleicher Weise wie für den Sport-, den Mathematik- oder den Religionslehrer. Nur wer von seinen Sachen überzeugt ist, kann sie lehren – jenseits von Langeweile und Beliebigkeit. Wer – sit venia verbo – nicht unter didaktischen Starkstrom gerät, weil er seine französischen Verben lehren, den Pythagoreischen Lehrsatz oder das Ohmsche Gesetz lehren darf, der taugt als Lehrer nicht. Und wer uns zwingt, unser Lehren auf bloße Wissensvermittlung zu reduzieren, nimmt uns jede Bildungsmöglichkeit. Aus diesem Grund zog der bereits erwähnte Heinrich Roth in seiner "Pädagogischen Psychologie des Lehrens und Lernens" die Konsequenz, indem er schrieb:
"Der pädagogische Gehalt eines Kulturgutes schließt sich nur dem auf, der selbst einmal von ihm zuinnerst getroffen wurde und dieses Getroffensein immer wieder in sich zu verlebendigen vermag. Nur wer selbst vom Gegenstand verwandelt wurde, besitzt das Feingefühl für die erweckende und verwandelnde Kraft eines Kulturgutes." Das gilt auch und erst recht für den Religionslehrer, dem anderenfalls der verzweifelte Schrei auf Golgatha (Markus 15, 34) ebenso als ein leeres Wort erscheint wie 1. Korinther 13, 13. Denn beide Botschaften kann man nicht ohne gelebten Glauben verstehen, weder jenes: Eli, Eli, lama Sabathani? (Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?) noch diesen Zuspruch: Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die Liebe aber ist die größte unter ihnen.

 

VI  Ein demütiges Leben

Sein Leben, ich gesteh’s hätte ich nicht so gern gelebt – aus Angst, ich wäre an und in ihm zerbrochen, hätte die Kraft nicht gehabt, all das Leid durchzuhalten, das ihm zugemutet wurde.

Geboren wurde er am 4.2.1906; sein Vater war ein international renommierter Psychiater, die Mutter kam aus einem Theologenhaus, unterrichtete ihre acht Kinder jahrelang selbst und legte das Lehrerinnen-Examen ab – damals ungewöhnlich. Ihn zog es mehr zu den Seelen als zu den Psychen hin: Er studierte Theologie, wurde Pfarrer, Leiter eines Predigerseminars, erhielt 1937 Lehrverbot, suchte und fand den Widerstand gegen Nazi-Barbarei und Kirchenverfolgung, verlobte sich am 17. Januar 1943 (als immerhin 37jähriger, durch zahlreiche Schriften schon recht bekannter Mann) mit der damals erst 19jährigen Abiturientin Maria von Wedemeyer. Am 5. April jedoch wurde er verhaftet, wegen "Zersetzung der Wehrkraft" angeklagt und zunächst in der Militäranstalt Berlin-Tegel, dann Anfang Oktober 1944 in den Gestapo-Keller in der Prinz-Albrecht-Straße und schließlich im Februar 1945 zunächst in Konzentrationslager Buchenwald, dann ins KZ Flossenbürg gebracht, wo er am 9. April 1945 hingerichtet, das heißt gehängt wurde – der, Dietrich Bonhoeffer, der mit seiner Verlobten noch nicht einmal 12 Wochen in relativer Freiheit leben durfte, aber ihr in den gut 24 Monaten seiner schlimmen Haft Briefe schreiben konnte und auch Briefe von ihr empfangen durfte, die – trotz der Zensur – ein erschütterndes Dokument menschlichen Leidens und Hoffens, Verzweifelns und Glaubens sind, so dass man sie ohne große Erregung kaum zu lesen vermag. Rehabilitiert und von dem Terrorurteil des "Landesverrates" freigesprochen wurde er erst im Juli 1996, also mehr als 50 Jahre nach seinem Tod, seiner Ermordung.

 

Am 19.12.1944 schreibt er seine letzten Brief an seine "liebste Maria", aus dem ich zitieren möchte.

Meine liebste Maria! (Prinz-Albrecht-Straße ) 19.12.44

Ich bin so froh, dass ich Dir zu Weihnachten schreiben kann, und durch Dich auch die Eltern und Geschwister grüßen und Euch danken kann. Es werden sehr stille Tage in unsern Häusern sein. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergessene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: "zweie die mich decken, zweie, die mich wecken", so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder. Du darfst also nicht denken, ich sei unglücklich. Was heißt denn glücklich und unglücklich? Es hängt ja so wenig von den Umständen ab, sondern eigentlich nur von dem, was im Menschen vorgeht. Ich bin jeden Tag froh, dass ich Dich, Euch habe und das macht mich glücklich und froh. –

Das Äußere ist hier kaum anders als in Tegel, der Tagesablauf derselbe ... Könnt Ihr meine Unterhosen so konstruieren, dass sie nicht rutschen? Man hat hier keine Hosenträger. Ich bin froh, dass ich rauchen darf! Dass Ihr alles für mich denkt und tut, was Ihr könnt, dafür danke ich Euch; das zu wissen ist für mich das Wichtigste.

Es sind nun fast 2 Jahre, dass wir aufeinander warten, liebste Maria. Werde nicht mutlos. Ich bin froh, dass Du bei den Eltern bist. Grüße Deine Mutter und das ganze Haus sehr von mit. Hier noch ein paar Verse, die mir in den letzten Abenden einfielen.

Sie sind der Weihnachtsgruß für Dich und die Eltern und Geschwister


Von guten Mächten treu und still umgeben
behütet und getröstet wunderbar;
so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Noch will das alte unsre‘ Herzen quälen
noch drückt uns böser Tage schwere Last,
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das Du uns geschaffen hast.

Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern,
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus Deiner guten und geliebten Hand.

Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann woll’n wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört Dir unser Leben ganz.

Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die Du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen!
Wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht.

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all Deiner Kinder hohen Lobgesang.

Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Wie, so möchte ich abschließend uns alle fragen, wie hätte dieser Mann, wie hätte diese Frau, Sinn inmitten von Wahnsinn gefunden, wenn ihnen die Möglichkeit der religiösen Bildung nicht gegeben worden wäre? Wie denn?

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2000

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